Juli 12

Prolog – Der Meister

Der Meister wählte vorsichtig einen anderen der im gelben Licht des Öls schwach schimmernden Kristalle und hielt ihn vor mich hin.
„Sieh hin,“ wisperte er, hauchleise – so wie beinahe immer.
„Sieh genau hin, Jüngling. Hier ist Er, den wir erwarten. Eines Tages wird Er kommen.
Wir wissen nichts über Ihn. Wir wissen nichts über das, was Er tun wird, lediglich ist es vorhergesagt, dass Er uns finden wird, mich… oder einen meiner Schüler… oder dessen Nachfolger oder jenen, der danach kommt. Vielleicht sogar Dich…. Wer weiss es schon…“
Ein trockener, quälender Husten schüttelte den alten Meister, zerrte von innen
heraus an dem gebrechlichen Körper und ließ seine langen goldenen Barten
erbeben.
„Präg ihn Dir gut ein, mein Kleiner,“ wiederholte mein Lehrer, als er wieder
genug Luft dazu hatte, „denn es steht geschrieben, daß Er unsere Rasse
vernichten wird. Wir müssen sehr wachsam sein…“
Ich sah genau hin, aufmerksamer Schüler und beeindruckt von der
Eindringlichkeit der Rede des Meisters, ließ er sich doch überhaupt das erste Mal dazu herab, mit mir zu sprechen. Ich sah ein seltsames Wesen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte, ein Wesen, das halb Mensch und halb Panther zu sein schien. Der obere Teil war haar- und schuppenlos, lange, schwarze Haare entsprossen dem oberen Kopfbereich und bedeckten die nicht sehr breiten Schultern. Das Gesicht darunter vereinte menschliche und kätzische Züge – besser kann ich es nicht beschreiben. Vielleicht bedingten diesen Eindruck die großen, schräg gestellten grünen Katzenaugen des Wesens. Der aufrechte, mit vielerlei Tätowierungen bedeckte Oberkörper mündete in einen behaarten Rumpf mit vier starken Beinen und einem langen, unruhig hin und her schlagenden Schwanz.
An den Spitzen der großen Tatzen blitzten scharfe Krallen, und der ganze Körper schien jugendlich und geschmeidig und bereit zu Sprung und Kampf.
Ich schnaubte. Wenn dieses Wesen nicht wesentlich grösser war als das Abbild es verhieß, konnte selbst ich ihn mit einem einzigen Schnappen meiner mächtigen Zähne mühelos zerreissen. Ich öffnete den Rachen, um meinem Meister und dem in den Kristall geätzten Bild meine Reißzähne zu zeigen, doch der Alte schnaubte ebenfalls und lächelte müde.
Bevor seine Stimme in einem erneuten Hustenanfall unterging, brachte er noch hervor: „Aye, ich weiss. Er sieht klein und unbedeutend aus, nicht wahr? Aber gerade das ist es, was ihn so gefährlich macht, Jüngling. Wie schon gesagt – präge ihn Dir gut ein….“
Ich sah noch einmal in den Kristall. Das Wesen schien sich leicht zu ducken, als setze es zum Sprung an…


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht12. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT