Oktober 4

Artgerechte Menschenhaltung

Viele, viele Leute machen sich Gedanken über artgerechte Tierhaltung. Tierschützer zum Beispiel, die Leute von den Tierheimen und von Greenpeace vielleicht, Jäger und Fischer und die Leute, die Aquakulturen betreiben – auch wenn es nur ist, um nach außen hin möglichst ein Saubermann-Images aufrecht zu erhalten, und sei es auch noch so verquer zustande gekommen.
Andere, Veganer zumeist, lehnen sie ganz und gar ab, sagen, dass ein Tier, welches auch immer, gar nicht gehalten werden sollte; dass man nicht (aus-)nutzen sollte, was sie uns Menschen geben können. Sei es nun als Produzent – also für Fleisch zum Beispiel oder Wolle, oder als Testobjekt für Kosmetika oder Medikamente oder hundert andere Dinge mehr, die die Menschen mit den anderen Wesen auf diesem Planeten veranstaltet haben.
Denn jede Gefangenschaft, und sei sie auch noch so angenehm gestaltet, ist und bleibt ja schließlich eine Gefangenschaft.
Wieder andere sagen – wenn das Tier nicht leiden muss, wenn es nicht sterben muss um ein Produkt zu erzeugen, dann wird es wohl in Ordnung sein mit einer für beide Seiten angenehmen, nutzbringenden Gefangenschaft. Eine Symbiose, sozusagen. Wolle kann man zum Beispiel nutzen, ohne dem Erzeuger Schaf groß zu schaden, Eier von Hühnern aus dem eigenen Garten man essen oder Bio-Honig zum Beispiel.

Tja… teilweise führen diese Leute einen regelrechten Kampf. Aufmerksamkeit wecken hier, schlechtes Gewissen machen dort, hier eine Aktion, dort ein Protest. Es gibt große Diskussionen, wieviel Platz eine Kuh braucht und wieviel Liegefläche ein Schwein, wieviele Hühner zusammen gehalten werden sollten… und so weiter und so fort.

Natürlich ist das völlig in Ordnung, und es ist auch wichtig, die bequeme Mehrheit, die höchstens noch auf das Bio-label achtet und ansonsten trotzdem ihren Sonntagsbraten und die feinen italienischen Lederschuhe kauft, auf die bestehenden Probleme und Mißstände aufmerksam zu machen.

Aber hat sich mal jemand auf derselben Basis Gedanken gemacht über die artgerechte Haltung von Menschen…? Wie müsste denn ein Mensch gehalten werden, oder besser, wie müsste ein Mensch sich selber halten, wenn er sich artgerecht behandeln wollte?

Tja… Mal sehen.
Ein Mensch, das ist ein Tier mit weniger Haaren und mit einem leistungsfähigeren Gehirn als viele andere Mitwesen auf diesem Planeten.
Ich denke, mit dieser groben Definition können wir erstmal alle leben.
Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass wir unsere tierische Herkunft nicht verleugnen können. Wie sollte es auch anders sein? Unsere Gene sind zu 99% identisch mit denen eines Schimpansen. Nicht nur bei Max Mustermann, dem Fallbeispiel wissenschaftlichen Forschens – sondern bei mir, bei Dir – bei uns allen.

Das heißt in der Folge:
Unser Gehirn-Computer hat vielleicht den neusten Prozessor und den meisten Arbeitsspeicher – aber welches Betriebssystem läuft denn da drauf?
Ein Großteil unseres „Betriebssystems“ muss folglich – wie sollte es auch anders sein – immer noch sehr tierisch sein.
Angst, Wut, Aufregung, Trauer – Freude, Glück, Liebe, Zufriedenheit – das sind doch unsere Gefühle, unsere allerwichtigsten Antriebsfedern. Diese entstehen in der Amygdala, einem sehr kleinen und entwicklungsgeschichtlich gesehen sehr alten Teil unseres Gehirns. Und – keine Überraschung – nicht nur wir haben eine, sondern jedes etwas höher entwickelte Wirbeltier.
Inzwischen ist die Forschung so weit, dass sie zumindest einfache Gefühle jedem weiter entwickelten Säugetier zugesteht, also Angst oder Freude. Komplexere Gefühle kann man noch nicht direkt nachweisen – aber jeder Tierbesitzer wird deutlich weiter gehen und Dir ganz im Vertrauen verraten, was sein Hund oder seine Katze so fühlt und denkt, warum er oder sie dies oder das tut oder lässt. Natürlich wird dahinein auch über-interpretiert und die Gefühle des menschlichen Halters auf das Tier übertragen – aber dass grundsätzlich jedes Tier eine Persönlichkeit und ein Empfinden hat, darüber herrscht bei den allermeisten Leuten schonmal Einigkeit.
Soweit, so gut.
Die ersten Anforderungen an eine artgerechte Menschenhaltung sind also, dass wir unsere Persönlichkeit leben dürfen, unsere Gefühle fühlen und unsere Meinung haben dürfen.

  • Die eigene Persönlichkeit und die eigenen Interessen müssen gewürdigt werden. Jeder Mensch sollte einem Hobby oder Interesse nachgehen.
  • Gefühle müssen dargestellt, ausgelebt werden dürfen. Man darf weinen, schreien, lachen – müssen.

Und was sind wir Menschen nun für Tiere, wofür haben wir uns denn entwickelt? Was unterscheidet uns von dem nahe verwandten Schimpansen, dem Bonobo oder dem OrangUtan?
Entwicklungsgeschichtlich nimmt man an, dass die ersten Menschen ein Problem hatten. Sie lebten ähnlich wie die Schimpansen heute, in dschungelartigen Wäldern mit einer großen Vielfalt an pflanzlicher Kost – vor allem Früchten.
Halten wir an diesem Punkt fest, dass wir diesen Entwicklungsschritt auch sehr gut bei Kleinkindern beobachten können, so bald sie feste Nahrung zu sich nehmen können. Erdbeer, Apfel, Birne und co. ist in dieser Phase immer deutlich beliebter als Brokkoli und Kartoffeln, nicht wahr? Süß und saftig – das sind unsere ersten Wünsche.
Doch das Klima und die Umgebung der ersten Menschen veränderte sich – die Wälder wurden zu warmen Steppen, die nicht mehr so viel pflanzliche Nahrung hergaben. Der Mensch richtete sich auf und sah sich nach alternativen Nahrungsquellen um – Fleisch und Fisch.
Um beides oder zumindest eins von beiden zu bekommen, musste man Werkzeug benutzen, Speere zum Beispiel – und dazu musste unser Gehirn leistungsfähiger werden.
Auch dieses Verlangen nach – zumeist Fleisch – kann man bei vielen Kindern etwa um das fünfte bis siebte Lebensjahr herum gut beobachten.

Ausserdem – und das ist interessant – gibt es bei jedem von uns deutliche Anpassungen an ein Leben am und im Wasser. Nicht gewusst?
Breite mal Deine Finger aus. Siehst Du die kleinen Ansätze von Schwimmhäuten zwischen den Fingern? Manche Menschen haben übrigens mehr als nur Ansätze davon zurückbehalten, häufiger zwischen den Zehen als zwischen den Fingern.
Dass unsere Haut bei längerem Baden wellig wird, ist auch so eine Anpassung, die uns zum Beispiel in schlüpfrigem Ufermatsch Halt geben soll – genauso übrigens, dass sie so langen und intensiven Kontakt mit Wasser, wie wir Menschen ihn suchen, überhaupt dauerhaft aushält.
Babies, die im Wasser geboren werden, treiben automatisch nach oben und holen dann erst Luft; ein Vorgang, der bei einer Wassergeburt gut beobachtet werden kann.
Es gibt auch keine andere gute Theorie, warum wir Menschen so haarlos sind – die heiße Steppensonne allein kann das nicht erklären. Sonst wären ja alle Zebras, Geparden und Hyänen genauso haarlos wie wir. Außer natürlich, wir sind in unserer Entwicklungsgeschichte für lange Zeit regelmässig schwimmen und tauchen gegangen. Dabei stört so ein Haarpelz nämlich, wenn man ihn nicht, wie ein Otter, mit seiner Burzeldrüse einfetten kann.
Und auch hier wieder: jede Mutter weiß, wie gerne Kinder ab einem bestimmten Alter ins Wasser gehen oder am Wasser spielen möchten.
Übrigens ist sogar die Angst vor zu tiefem Wasser – wenn man zum Beispiel in einem See dieses mulmige Gefühl hat, dass da unter einem so ein endloser tiefer Schlund ist – vermutlich eine Anpassung an ein wassernahes Leben. Es ist ja nicht gesagt, dass diese ersten Menschen alle hervorragende Schwimmer waren; es ist entwicklungsgeschichtlich gesehen sicher sinnvoll, vor allzu tiefem Wasser zumindest Respekt zu haben und im sicheren Randgebiet zu bleiben.

Halten wir also fest:

  • Obst und Fisch gehört zu einer guten menschlichen Ernährung. Na, wie viel davon hast Du diese Woche gegessen?
  • Im Wasser bewegen, also waten, schwimmen oder vielleicht noch duschen gehört zu der elementaren menschlichen Natur, und hier geht es nicht um die 20ml, die ein Waschlappen fasst. Regelmässig – das hieße zum Beispiel einmal die Woche schwimmen zu gehen und alle zwei Tage zu duschen – ruhig auch kalt.

So. Dann sind wir Menschen natürlich Bewegungstiere. Selbst ein sehr ungeübter Mensch kann 5 Kilometer spazieren gehen (wenn er nicht krank ist), und einem halbwegs normalen Menschen macht eine Wanderung von 10 bis 20 Kilometern an einem Nachmittag gar nichts aus.
Geübte Wanderer oder gar Läufer schaffen natürlich das doppelte und noch deutlich mehr.
Zum Vergleich: Einem Pferd, dass nicht explizit auf Wanderreiten trainiert wurde, würde ein verantwortungsvoller Pferdebesitzer auch nur 20 oder 30 km am Tag zutrauen – mit vielen Pausen und auf keinen Fall dauerhaft.
Unsere Verbreitung auf der Erde allein zeigt schon, dass wir sehr weite Wanderungen unternommen haben und unternehmen mussten – um Nahrung zu finden und neue Lebensräume.
Bewegung gehört also zu unseren essentiellen Bedürfnissen, seit vielen – seit hunderttausenden Jahren.
Sportmediziner empfehlen übrigens, mindestens eine halbe Stunde am Tag etwas zu tun, was der Herz-Kreislaufsystem deutlich fordert. Ja, richtigen, echten Sport – und zwar solchen, bei dem man hinterher auch schwitzt und nicht nur kurz gähnt.
Tja, und dann weiss sicher nicht nur ich, dass es für die Erholung einen gewaltigen Unterschied macht, ob man sich eine halbe Stunde lang den Bürgersteig einer vielbefahrenen Straße entlang bewegt oder ob man diese halbe Stunde im Wald verbringt. Eine natürliche Umgebung, am besten ein Wechsel aus Wiesen und Wäldern, ist das Beste, was wir uns anschauen und anhören können.

Eine besonders tückische Erkrankung in unseren Industrieländern, von der man immer wieder liest, ist die Depression. Dabei wird ein Mensch immer antriebs- und tatenloser, verzweifelt über seinem Leben (auch wenn es anfangs vielleicht noch gar nicht sooo furchtbar ist) – bis hin zu dem Punkt, wo er aktiv versucht, sich umzubringen, weil er sein Leben als nicht mehr lebenswert erachtet. (Natürlich gibt es noch andere Gründe, wie und warum eine Depression bei einem Menschen entstehen kann – zum Beispiel ist sie ein häufiger Begleiter chronischer Schmerzen oder sonstiger, sehr stark einschränkender Krankheiten.)
Egal, woher sie kommen, Depressionen äussern sich häufig auch in Schlaflosigkeit und einem verschobenen Verhältnis von Tag- und Nacht-aktivität. Immer wieder wird depressiven Patienten empfohlen, genaustens auf regelmässiges Verhalten zu achten, nachts zu schlafen und tags so viel Sonnenlicht wie möglich mit zu nehmen. Das Sonnenlicht nämlich fördert die Produktion des Hormons, dass uns nachts schlafen lässt. Es gibt sogar ein Medikament gegen Depressionen, das nichts anderes tut, als mit der Einnahme der Tablette dem Körper zu sagen, wann denn nun Nacht und wann Tag ist.
Wir Menschen brauchen also den Wechsel von Tag und Nacht, Sonnenlicht und freien Himmel. Wieviel davon wir täglich brauchen, ist heiß diskutiert, aber „so viel wie möglich“ ist wohl eine gute Arbeitshypothese, und „mindestens eine Stunde“ ist sicher eine valide Annahme.
Gefangene in deutschen Gefängnissen bekommen in der Regel 1 Stunde Hofgang im Freien.

Wie sieht das mit Schlafen aus? Empfohlen werden für Erwachsene 7-9 Stunden täglich – für Jugendliche und Kinder deutlich mehr.

Also, wieder festhalten:

  • (ruhige) Bewegung, mindestens eine halbe Stunde am Tag, benötigt ein Mensch – idealerweise in der freien Natur.
  • eine weitere halbe Stunde sollte man sich in irgendeiner Art und Weise anstrengen.
  • Eine Stunde Aufenthalt im Freien, am besten deutlich mehr und bei jedem Wetter, sollte es für jeden Menschen sein. (Und nein – autofahren gehört da nicht dazu).
  • Mindestens 7 Stunden Schlaf täglich (im Dunkeln, wenn möglich) werden empfohlen – und die halbe Stunde, die ein Erwachsener zum Einschlafen benötigt, zählt noch nicht dazu.

Jeder von uns weiss es darüber hinaus eigentlich: Sitzen ist für den Körper schlecht. Es ist zu ruhig, das Blut staut sich in den Beinen, der Rücken wird krumm und schief, die Nackenmuskeln verspannen sich und manchmal schlafen einem sogar die Hände ein.
Aufstehen, hocken – die Haltung wechseln, das ist eigentlich das, was wir den ganzen Tag über tun sollten.

Und wieviel Platz sollten wir so brauchen?
Zum Vergleich: Einem Gefangenen in einem deutschen Gefängnis stehen etwa 8-10 Quadratmeter zur Verfügung – der Platz für ein Bett, einen Schrank, einen Stuhl, einen Tisch. Anderen Personen allerdings noch deutlich weniger – einem Uboot-Fahrer zum Beispiel.
Ein Mastbulle hat bei konventioneller Rinderhaltung übrigens knapp 3 Quadratmeter zur Verfügung.
Dauerhaft möchte so aber niemand leben, oder? Sicherlich gibt es Untersuchungen dazu, doch auch ohne diese zu googlen ist klar, dass das dauerhafte Zusammenleben auf engstem Raum Aggressionen schürt und Streß für Menschen bedeutet. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Deutschland liegt derzeit bei ungefähr 45-50 Quadratmeter. Nehmen wir das also mal als „normal“ bis hin zu „schon luxuriös“ an. Miß doch mal nach, wieviel Platz hast Du? Und wieviel hättest Du gern?

  • Menschen sollten sich bewegen dürfen, und zwar den ganzen Tag lang. Mindestens ein Wechsel der Position/Lage pro Stunde ist sinnvoll.
  • Mindestens 15 Quadratmeter eigener Raum sollte einem Menschen dauerhaft zur Verfügung stehen (hab die Toilette usw. mit eingerechnet, die ein Gefangener nicht für sich alleine hat).

So, das waren jetzt die Umgebungsvariablen. Nun kommen wir zu den sozialen Aspekten.
Wer weiss es nicht, der Mensch ist ein soziales Tier, es lebt gerne in Gruppen. Dauerhafte Einsamkeit ist nicht nur bei älteren Menschen ein Problem.
Wer vielleicht mal gelesen hat, wie konventionell Hühner gehalten werden, der weiss, dass diese Tiere enorm gestresst werden – erstens dadurch, dass sie sich nicht aus dem Weg gehen können und zweitens dadurch, dass sie in Gruppen von mehreren tausend Tieren gehalten werden, aber nur maximal 250 Tiere sicher auseinanderhalten können – und eine sichere und gewohnte Rangordnung nur mit so ca. 40 Tieren gut aufrecht erhalten können. Wildlebende Hühner haben Gruppengrößen von 5 bis 20 Tieren.
Experimente mit Menschen, die in Kelten- und Steinzeitdörfern und so weiter gelebt haben, zeigen etwas ähnliches.
Eine Gruppengröße von 30 bis 100 Personen scheint normal gewesen zu sein, mehr als 200 Leute bedeuten schon ansatzweise Streß, weil man die eigene Position gegenüber den anderen 199 Leuten darstellen, halten, festigen, in Frage stellen, bestätigen… usw. usf. muss.
Das bedeutet natürlich nicht, dass gar kein Austausch mit Personen ausserhalb der eigenen Gruppe stattfinden kann, aber die eigene Gruppe sollte klar definiert und erkennbar sein.
Ist es nun Zufall, dass sehr viele Gruppen, die sich im Internet bilden – seien es jetzt Spielergilden für Online-Spieler oder Fangemeinschaften, Fußballvereine usw. so etwa in diese Größenordnung hineinpassen?

Ausserdem sollte es für jeden in der Gruppe möglich sein, seinen persönlichen Freiraum zu leben und also eben auch mal allein zu sein. Man kann sich nicht ständig darstellen, nicht ständig kommunizieren – manchmal muss man auch allein sein.
Wieviele Stunden am Tag muss man allein sein, was sagt ihr? (es geht darum, bewusst allein zu sein. Alleine irgendwo zu schlafen, zählt nicht)
Ich denke, der Wert ist je nach Persönlichkeit deutlich unterschiedlich, aber zwei Stunden am Tag sollten es schon sein.

  • Ein Mensch benötigt zwei bis fünf Vertraute, mit denen er über alles Mögliche und Unmögliche sprechen kann.
  • Ein Mensch benötigt eine Gruppe von 30 bis 100 Mitmenschen, die er ab und zu sieht, trifft, hört, berührt usw. – mit der er sich identifizieren kann.
  • Er benötigt 1-2 Stunden Privatzeit für sich allein mindestens am Tag.

Und was machen Menschen so, wenn sie sich treffen? Richtig, sie unterhalten sich. Und die anderen weltweit über alle Kulturen hinweg verbreiteten Gemeinschaftsphänomene: Sie kochen, essen, tanzen und musizieren zusammen.

Unsere Fähigkeit, Sprache und Gesang hervorzubringen, ist in der Welt einzigartig, und der Spass daran, mit Stimmen und Sprache zu spielen, wird uns in die Wiege gelegt – auch, wenn vielen von uns beides oder eins davon durch den Schulunterricht wieder abtrainiert wird.

Fast niemand interpretiert gern ein Gedicht oder schreibt einen Aufsatz, aber der Idee der humanistischen Bildung, dass man nämlich die eigene Sprache so gut beherrschen sollte, dass man sich darin auch über komplexe, schwer zu vermittelnde Themen unterhalten kann, sagt sicher etwas über uns Menschen aus: Wir lieben unsere Sprachen, unsere Worte und die Unmenge an Dingen, über die wir uns darin unterhalten können.

Ach, am Rande etwas für die Leute, die steif und fest von sich behaupten, dass sie nicht singen können: Es gibt die wissenschaftliche These, dass alle Menschen mit einem absoluten Gehör geboren werden und dass diese Fähigkeit, genau zu wissen, welcher Ton in welcher Tonhöhe nun wo genau angesiedelt ist, erst im Laufe der Entwicklung zum Jugendlichen hin bei mangelhafter Benutzung verkümmert.

Also wenn es so ist – sind natürlich eure Eltern schuld, wer sonst!

Singen ist aber nichts für eine Person allein. Klar, es geht, aber was ist denn eine einzige Singstimme ohne jegliche Begleitung? Bald langweilig, genau. Heute wird meist ein einziger Sänger durch eine Menge Hintergrundinstrumente unterstützt, aber früher, wo unsere Werkzeuge noch nicht so ausgereift waren, war es wichtig, gemeinsam singen zu können und mit mehreren Tonlagen eine gute, gemeinsame Abstimmung zu erreichen.
Ich selbst bin keine Sängerin, aber ich nehme stark an, dass man sich ganz gut kennen muss, um gemeinsam zu singen; dass man sich auf einander einstellen muss und verstehen muss, wie der andere singen wird.

Jeder Läufer, jeder Sportler, fast jeder Arbeitnehmer hört gerne Musik bei dem, was er tut. Musik powert uns durch, treibt uns an, weiter zu gehen als zuvor, nicht aufzuhören, weil die Musik ja auch nicht aufhört.

Der andere Teil – kochen, essen und musizieren – ja. Grob gesagt – wir bewegen unsere Finger, wir arbeiten mit den Händen. Unsere Hände sind auch etwas menschlich-einzigartiges.

Habt ihr schon mal jemanden sagen hören, der den ganzen Tag am Computer arbeitet, dass er oft müde ist, aber trotzdem der Meinung sei, er hätte nicht allzuviel geschafft? Klar – er hat die Hände bewegt – aber er hat nichts geschaffen.
Es kann sehr erfüllend sein, selbst etwas herzustellen, etwas zu handwerken – oder eben zu kochen. Wenn man sich die Unmenge an Rezepten und Vorgehensweisen anschaut, die man beim Kochen benutzen kann, dann kann niemand ernsthaft noch zu seinem Kind sagen: „Mit dem Essen spielt man nicht!“ Im Gegenteil, wir spielen seit Jahrtausenden mit unserem Essen.

Halten wir also wieder fest:

  • Artgerechte Menschenhaltung beinhaltet regelmäßige Unterhaltungen mit wechselnden Gesprächspartnern und Musik in irgendeiner Form.
  • Außerdem benötigt ein Mensch täglich die Möglichkeit, seine Finger nutzbringend einzusetzen, sei es nun beim Kochen, Handwerken, Musizieren oder, oder, oder. Am besten gehst Du gleich hin und erschaffst etwas damit!

Aber nicht nur Musizieren und Handwerken sind die Tätigkeiten, die Menschen über alle Kulturen und Generationen hinweg ausgeübt haben. Zwei sehr wichtige Dinge haben wir nämlich noch vergessen: Feuer – und Geschichten.

Feuer fasziniert jeden, in jeder Altersgruppe. Und – testet es ruhig mal – wenn ein Feuer im Garten brennt, werden die Leute ruhiger, suchen das Gespräch, machen es sich gemütlich.
Feuer eint. Ob wir es wirklich jeden Tag oder jede Woche brauchen, sei mal dahingestellt – aber es ist seit Jahrtausenden unser Ding. Ruhig mal wieder gönnen, auch wenn es draußen kalt ist.

Zu den Geschichten muss ich wohl kaum noch etwas sagen. Es gibt kaum eine menschliche Tätigkeit, die mit einer Geschichte dabei, dazu oder darin nicht besser funktioniert. Selbst beim Lernen bauen wir uns Eselsbrücken – machen uns die Zusammenhänge mit einer kleinen Geschichte besser verständlich. Wir sind so geil auf Geschichten, dass wir stundenlang vor dem Fernseher Serien schauen, dass wir für Millionen von Euros Computerspiele programmieren lassen, die nichts anderes tun als uns eine Geschichte zu erzählen – dass wir die ältesten und allerältesten Geschichten als von den Göttern erschaffen verehren und sie „heilige Texte“ nennen. Wenn unsere Vorfahren in den kalten Wintermonaten nicht viel anderes zu tun hatten, nahmen sie die alten Geschichten und schmückten sie immer weiter und weiter aus, erfanden hier etwas dazu und addierten dort ein winziges Detail – die großen Epen, wie die Edda oder die Nibelungensaga sind so entstanden.
Geschichten sind unsere Lebensessenz; ohne solltet ihr keinen Tag verbringen!

Also ohne besondere Sortierung alles noch einmal kurz und knackig aufgelistet:

  • 1-2 Stunden Privatzeit.
  • (Ruhige) Bewegung, mindestens eine halbe Stunde am Tag.
  • 1/2 Stunde Anstrengung.
  • 1 Stunde Aufenthalt im Freien.
  • 7 Stunden Schlaf täglich.
  • Obst und Fisch essen.
  • Im Wasser bewegen.
  • Einem Hobby oder Interesse nachgehen.
  • Gefühle zeigen (dürfen).
  • Regelmäßige Unterhaltungen mit wechselnden Gesprächspartnern.
  • Musik hören.
  • Die Finger nutzbringend einsetzen – werken.
  • Zwei bis fünf Vertraute.
  • Eine Identifikationsgruppe von 30 bis 100 Mitmenschen.
  • Feuer.
  • Geschichten!

Und zu guter Letzt: Wir haben unsere Intelligenz entwickelt, weil wir uns an den Wechsel unserer Umwelt anpassen mussten – vermutlich mehrmals im großen Stil, durch die Veränderung ganzer Lebensräume, und millionenfach im Kleinen – in jedem Leben, bei jeder Person erneut. Intelligenz ist also die Fähigkeit, sich an Änderungen anzupassen.

Das bedeutet auch, dass wir es – anders als manche Tiere – auch mal aushalten können, wenn wir unsere ganz ureigenen, menschlichen Bedürfnisse mal nicht erfüllen können, aus welchen Gründen auch immer.
Aber wir sollten das nicht täglich tun.

Wenn wir unsere menschliche Natur nämlich ignorieren, uns immer wieder gegen sie stellen – dann wird sie sich daran nämlich auch anpassen. Und vielleicht wird dann Intelligenz nicht mehr das Selektionskriterium sein.

So, und da Du jetzt ja bescheid weißt: Halte Dich heute mal artgerecht!


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht4. Oktober 2020 von ZuMe in Kategorie "Gedanken", "Schreiben