9 Tjani / Koowu
Als die Sonne hinter den hohen Bergen versank und sich kühle Dämmerung über das Tal ausbreitete, war Tjani noch keinen Schritt weitergekommen. Alle Bäume und Sträucher in unmittelbarer Umgebung des namenlosen Teiches hatte sie überprüft… auf irgendwas, dass sie vermuten lassen könnte, hier gäbe es irgendeine Art von Zivilisation. Keine Lampen, keine befestigten Eingänge, keine Einflugschneisen, keine Wächter. Nicht einmal Löcher in den Bäumen gab es viele, denn die hiesigen Lärchen, Tannen und Kiefern waren eher klein und geduckt, und wenn sie irgendeine Art von Angriffsfläche für Wetter und Wind zeigten, waren sie offensichtlich bald umgeknickt und lagen unter dem hohen Schnee vergraben. Eine hohe Esche direkt am See hatte ihr besondere Hoffnung gegeben, doch außer einigen gar nicht so leckeren Würmern und Maden hatte sie in den Höhlungen der Rinde nichts gefunden, was darauf hindeutete, dass es hier überhaupt noch Leben gab.
Ihr war kalt und sie hatte Hunger, sie war vom frühen Aufstehen müde und sah an den Wolken über den Hängen, dass es bald wieder schneien würde. Ja, man konnte mit Fug und Recht sagen, dass Tjanis Laune an einem Tiefstpunkt angekommen war, der sie die Entscheidung, nicht aufzugeben und hier weiter nach den Libellen zu suchen, bereuen und anzweifeln ließ.
Wenn sie sich heute reichlich und morgen nicht ganz so gut verpflegte, konnte sie zuhause sein, bevor ihr der Proviant ausging. Niemand konnte sagen, dass sie nicht gründlich genug gesucht hatte; zwei Nächte und einen Tag lang hatte sie ihr Bestes versucht. Nur war es eben nicht gut genug gewesen.
Trotzdem – Tjani störte gerade letzteres. Das, was sie erreichen wollte, was sie schaffen wollte, das schaffte sie auch. Aufgeben gehörte nicht zu ihren üblichen Optionen, was ihr mehr als einmal schon das Etikett „stur und seltsam“ eingebracht hatte. Alles an ihr sträubte sich dagegen, die offensichtlich sichere und bequemere Wahl zu treffen.
Nein, noch einen Tag. Und noch einen, falls nötig.
Wenn dann mein Proviant ausgegangen ist, kann ich einen Tag jagen und dann mit vollem Beutel heimfliegen, wenn schon sonst nichts.
Aber diese tapferen Überlegungen machte die Tatsache nicht besser, dass Tjani nur kalte, getrocknete Mausmuskeln als Verpflegung hatte und in ihrem einfachen Gewand in der ungewohnten Schneekälte zitterte, sobald sie aufhörte, sich zu bewegen.
Ein Feuer, also.
Gedacht, getan – Tjani stärkte sich ausgiebig und hob dann erneut ab, um abgebrochene Zweige und Äste für ein Feuer zu suchen. Unter dem Schnee waren einige versteckt, trocken Gebliebenes konnte man natürlich nicht erwarten. Am Fuß einer Kiefer fanden sich trockene Nadeln und einige Zapfen, die sie zum Anzünden verwenden wollte. Nun fehlte nur noch… achja. Am Ufer des Sees machte Tjani einige Büschel umgestürztes Schilf aus, dessen lange Rohre sich gut knicken und falten ließen. Hier ein Schnabelhieb, da ein Klauenriss… das würde gehen.
Tjani stapelte alles ordentlich in den halbwegs schneefreien Bereich unter der Kiefer, dann arbeitete sie sich geduldig mit Feuerstein und Zunder vor. Nadeln, Schilf, Holz. Es dauerte fast eine Stunde, bis das geduldig gehegte Fünkchen zu einer wärmenden Flamme geworden war. Tjani suchte mehr Holz und legte es zum Trocknen rings um das Feuer. Bald knisterte und zischte das Feuer auf das Gemütlichste, und Tjani konnte sich auf den Kiefernast darüber setzen, die Wärme genießen und die Augen für ein kurzes Mitternachtsschläfchen schließen.
Späterhin, als der Mond schon wieder im Osten unterging, machte sie sich noch auf die Jagd. Nicht sehr erfolgreich, wie sie selbst zugeben musste, aber immerhin: zwei Mäuse hatte sie erbeutet. Und mit ihrem Feuer konnte sie sogar ein warmes Essen und einen Tee genießen, denn Kräuter und einen irdenen Becher hatte sie in ihrem Tragbeutel mitgenommen. So war Tjanis Laune beträchtlich gestiegen, als sie mit der Morgendämmerung zu ihrem Ruheplatz zurückkehrte. So sieht doch alles schon viel besser aus…
Sie nahm sich vor, am nächsten Nachmittag wieder so früh aufzustehen und ihre Suche fortzusetzen. Und wenn ich im Schnee scharren muss…