Juli 14

9 Anan-Re / Jadeira

Aber niemand konnte etwas tun. Moari erstickte qualvoll, die Hände um seinen Hals gepresst; seine Pranken trommelten auf den Boden, seine Augen traten ihm beinahe aus den Höhlen; sein Gesicht lief erst rot, dann blau an.

Es dauerte qualvoll lange Minuten, bevor es vorbei war.

Anan liefen die Tränen über das Gesicht, ohne dass sie es merkte. Sie versuchte verzweifelt, Moaris verkrampfte Hände von seinem Hals zu ziehen und seinen Kopf zu stützen. Anan rang selbst um Luft, während sie ihren Vater stützte, so, als habe Trakra nicht nur ihm, sondern gleichzeitig auch ihr denselben, tödlichen Schlag versetzt.

Moaris Kopf war in einem schmerzhaften Winkel nach hinten gebogen, die Zunge hing ihm weit aus dem Mund. Sand wehte über den mächtigen, hingestreckten Löwenkörper.

Und niemand rührte sich! Verdammt, warum schauten sie alle nur zu?

All ihre Träume und Vorstellungen von der Zukunft schienen in diesem Moment davon zu fliegen, zu zerrinnen wie warmer Wüstensand unter ihren Fingern.

Gleichzeitig weigerte sie sich, zu akzeptieren, dass ihr Vater starb. Es konnte, es durfte nicht sein! Moari war immer ein fester, verlässlicher Halt in ihrem Leben gewesen, und sie konnte und wollte nicht verstehen, dass er so einfach – mit einem einzigen Schlag – von ihr fortgerissen werden konnte.

In der lastenden Stille der allgemeinen, erschrockenen Betäubung klang Trakras Stimme ruhig und fest.

„Jetzt,“ sagte er.

Nur ein feuchtes Röcheln warnte die tränenblinde Anan, dass noch etwas passiert war.

Neben ihr schwemmte Blut in den Staub des Kampfplatzes. Auf Trakras Befehl hatten seine Jäger den Ratsältesten, den Beratern des toten Kowa‘ die Kehlen durchgeschnitten.

Alle sieben, der alte Tasma’a genauso wie ihr Großvater Maror, waren leblos in den Staub gesunken.

Anan fühlte keinen Schmerz mehr – nicht mehr jedenfalls als zuvor. Irgendwo in ihr war ein Feuer entfacht, das bereits bis zur äußersten Weißglut geschürt worden war. Mehr Glut – mehr Wut – war nicht möglich, mehr Schmerz konnte sie nicht empfinden.

Knurrend fletschte sie ihre Zähne und kauerte sich neben dem Leichnam ihres Vaters zum Sprung zusammen, während sie den kleinen, scharfen Faytwa in der Scheide lockerte.

Schnell wie der Wind zischte ihr Faytwa aus der Scheide, und sie sprang auf Trakra zu. Mit einem zornigen Brüllen warf sie sich auf ihn, wollte nur noch zerfleischen und töten, blindwütige Rache nehmen für ihren Vater.

Trakra stolperte überrascht zwei Schritte zurück – quer über seinen narbigen Brustkorb zog sich ein neuer, blutiger Striemen – doch ein, zwei andere Jadeira schnappten nach Anans Armen und bogen ihr den Dolch aus den Fingern.

Sie versuchten das weinende, schreiende Mädchen zu beruhigen, das vor dem blutigen, im Staub liegenden Messer und neben ihrem toten Vater zusammenbrach.

Der Saddhaq war nto-qui – von der Blutrache ausgenommen.

Trakra hob den Kopf und brüllte den Siegesruf, riss die Arme hoch, als erwarte er tatsächlich Jubel für seine Tat.

Nur seine eigenen Jagdgefährten brachen in Hochrufe aus und priesen seine Kraft, während sich in den Reihen der besiegten Jadeira Murren und Knurren ausbreitete.

Anan bemerkte einen Moment lang echtes Erstaunen auf dem Gesicht des neuen Kowa‘, bevor die übliche, harte und ausdruckslose Maske wieder an ihren Platz rückte.

„Der Kowa‘ der Jadeira ist tot,“ rief Trakra laut und voll tönend mit seiner tiefen, angenehmen Stimme.

„Der Kampf wurde gerecht und ehrenhaft geführt. Bestreitet das jemand?“ fragte er in die Runde. Seine dunkelbraune Haarmähne streifte hinter ihm her, als er nacheinander in die Gesichter in der Runde sah.

„Beim Kampf der Leeren Hand geht es nicht darum, schnell zu töten, sondern im Tanz zu zeigen, wie gut man es kann!“ rief jemand aus den hinteren Reihen. Anan glaubte, es sei Kimars Stimme gewesen. Sie nickte nur kraftlos, während sie sich mit einer müden Bewegung die Tränen abwischte.

Trakra legte den Kopf schief und schüttelte den Mähne.

„Ich habe es nicht nötig, zu tanzen und so zu tun, als ob. Ich kämpfe für das, was ich will – und ich bekomme es auch,“ tat er den Einwand ab.

„Ich bin der neue Kowa‘ der Jadeira. Bestreitet das jemand?“ fragte er erneut.

Viele Jadeira nickten zu diesen Worten, was Anan den Magen zusammenkrampfte.

„Warum habt ihr die Ratsältesten getötet, unehrenhafte Verbrecherbande?!“ rief eine weitere Stimme, die einer Frau.

Vermutlich war es Taita, Marors langjährige Gefährtin. Mit einem Hauch von Schuldbewusstsein wurde Anan klar, dass auch andere Jadeira Verluste erlitten hatten. Sie hatte Vater und Großvater verloren. Anderen hier war dasselbe geschehen, denn die Ratsältesten waren allesamt mehrfache Väter, Großväter, Onkel und Schwager.

Nun konnte selbst Anan die aufrichtige Verblüffung in Trakras Antwort hören. „Weil es das Recht der Dijadda ist, um die Ratsmitgliedschaft zu kämpfen. Wenn sich die Ältesten nicht vorsehen, während ein Fremder mit einem Faytwa neben ihm steht – wann dann?“

Anan begriff es, obwohl sie es nicht verstehen wollte. Offensichtlich waren die Bräuche im Süden, dort, wo Trakras Dijadda her kam, anders als im Norden. Den Tanz der Leeren Hand hatte er nicht gekannt. Und auch die freundschaftlichen, meist nicht tödlichen Zweikämpfe, die die Ratsältesten nach dem Kampf der Kowa‘ mit den fremden Herausforderern hier im Norden ausfochten, schienen ihm nicht bekannt zu sein.

Offensichtlich waren die Bräuche im Süden anders; härter – und das war das Verhängnis sowohl ihres Vaters als auch ihres Großvaters gewesen.

„Es wäre nicht nötig gewesen, sie zu töten,“ widersprach dieselbe Frau. „Sie hätten in einem freundlichen Wettkampf um das Vorrecht gekämpft, dem Rat anzugehören, und nur so ist es Brauch. Du verdrehst die ehrenvollen Regeln des Saddhaq!“

Aus der Richtung der näher kommenden Stimme ertönte ein stöhnender Schrei, und einer der Fremden sackte zusammen. Ja, es war die weißhaarige Taita, die ihren Dolch dem fremden Jäger in den Rücken gerammt hatte, denjenigen, der Maror getötet hatte. Sein Blut klebte noch an seinen Fingern, und er fiel in seinen eigenen Mörderdolch.

Trakra trat ein paar Schritte vor, fort von Anan, die noch immer festgehalten wurde, und hin zu Taita. Stumm sah er auf seinen sterbenden Jagdgefährten, dann wieder zu Taita, die jetzt unbewaffnet vor ihm stand. Die anderen Jadeira waren auseinander gewichen, so als wollten sie Taita als nächstes Opfer einer reißenden Bestie zuführen.

„Die unehrenhafte Verbrecherin bist Du,“ sagte Trakra ruhig und zeigte auf seinen sich windenden Jagdgefährten.

„Der Saddhaq ist nto-qui – oder ist auch dieser Brauch im Norden verweichlicht und vergessen worden?“

Taitas Augen wurden schmal, als sie die immer noch scharfen Reißzähne entblößte.

„Das war kein Kampf, kein Saddhaq, was Deine Jagdgefährten auf Deinen Befehl hier getan haben. Das war Mord!“

Trakra sah sich um. Die Jadeira waren näher gekommen, und in den meisten Gesichtern fand er wohl Zustimmung zu Taitas Rede, denn von einem solchen Brauch hatte man bei den Jadeira noch nie gehört.

„Als neuer Kowa‘ der Jadeira gebührt mir das Vorrecht, über diese Anklage zu entscheiden,“ sagte Trakra schließlich, langsam.

„Meine Berater und ich werden darüber in Ruhe befinden. Zunächst gilt unsere Pflicht der Bestattung der ehrenvoll im Kampf Gefallenen.“

Er wies auf die hingestreckten Leichen, auf denen sich bereits die ersten Fliegen niedergelassen hatten.

Anan wurde klar, was Trakra vor hatte. Wie bei einer geehrten Jagdbeute wollte er ihrem Vater die Innereien herausschneiden. Aber dieser Kampf war nicht ehrenvoll gewesen – egal, was dieser Fremdling behaupten mochte.

Sie entwand sich dem eher stützenden als haltenden Griff ihrer beiden Freundinnen mit einer schnellen Rückwärtsbewegung, die ihr auch den kleinen, gekrümmten Faytwa ihrer Freundin Temaran in die Hände spielte.

„Die Mörder beraten sich darüber, ob ihre Tat ein Mord war?“ keifte Taita weiter hinten. „Kann so wahre Gerechtigkeit aussehen?“

Ehe Trakra darauf anders reagieren konnte als mit einem unruhigen Zucken seines Schwanzes, war Anan im Schutz der vielen Pranken schon bis zu ihrem Vater gekrochen.

Dort setzte sie selbst mit unruhig zitternden Händen den nötigen Schritt.

„Geister, nehmt die Seele meines Vaters Jadeira Moari-Re, der ein aufrechter und ehrenwerter Kämpfer war.
Er starb tapfer und für die Ehre seines Stammes,“ flüsterte sie, während sie das noch warme Fleisch aufschnitt.

Schließlich merkte man doch, was sie da tat, und zog sie von ihrem Vater fort, ehe sie das große Herz entfernen konnte. Doch die rituellen Worte waren bereits gesprochen und der flüchtige Seelenwind aus dem toten Körper in die reine Wüstenluft entwichen. Trakra würde diese Ehre nicht mehr für sich selbst in Anspruch nehmen können. Nach den Traditionen des Löwenschlags konnte Trakra sich nun Moaris Tod nicht als seine eigene Tat anrechnen.

Er warf ihr einen wütenden Blick zu, während sie aufrecht zwischen denen stand, die sie hoch gerissen hatten, den Dolch noch in den Händen, die vom Blut ihres Vaters rot gefärbt waren.

„Mörder!“ schrie sie lautstark, um Taitas Forderung gegen Trakra zu unterstützen.

„Sperrt sie ein,“ befahl Trakra nun. „Diese hier und diese da auch.“

Er zeigte auf Taita und Anan.

„Die Mädchen gehen in das Frauenzelt,“ ordnete er dann an, „und alle Jungen kommen zu mir. Ich will sie mir ansehen.“

„Sofort!“ Die Worte endeten in einem Brüllen. Ganz offensichtlich hatte Trakra sich diesen Sieg anders vorgestellt.

Starke Arme griffen nach Anan und führten sie und Taita in ein kleines, mit weichen Teppichen ausgelegtes Zelt.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira