Juli 14

8 Tjani / Koowu

Zwei Nächte später hatte sie das Tal gründlich erkundet, ohne irgendetwas anderes zu finden als Steine, Gras, Schnee und Eis.

Tjani kam sich so dumm vor: In Rekordzeit hier her zu fliegen, um dann, angekommen, rein gar nichts zu finden. Was sollte sie nun tun? Aufgeben und zurückfliegen?

Konnte sie denn ehrlich und aufrichtig behaupten, genug gesucht zu haben? Würde man ihr nicht Pflichtverletzung und Versagen vorwerfen, wenn sie mit leeren Händen zu dem großen Weisen zurückkehrte?

Warum nur hatte sie sich nicht genauer darüber informiert, wie der große Baum der Libellen aussah?

Es hatte alles so einfach geklungen, als Wanja-lu ihr von diesem Auftrag erzählt hatte. So – durchdacht.

Aber jetzt? Jetzt saß sie in einem Wald und sollte einen Baum finden, den es nicht gab. Wunderbar.

Also gut, überlegte Tjani während der Morgendämmerung. Wenn Du eine Libelle wärst, wo würdest Du wohnen?

Libellen, das wusste Tjani, liebten das Wasser. Außerdem, davon war sie fest überzeugt, waren sie Tagtiere. Vielleicht hatte sie sie nicht sehen können, weil sie in Dämmerung und Dunkelheit gesucht hatte? Vielleicht löschten die Libellen alle Lampen, wenn sie im dunkeln schliefen?

Und drittens und letztens vermutete Tjani, dass der Libellenschlag einen Baum brauchte, der bereits Hohlstellen oder andere Verletzungen aufwies. Immerhin hatten sie keine Schnäbel und waren, zumindest, was die Erzählungen anging, recht klein. Einen ganzen Baum auszuhöhlen, wäre für das Kleine Volk vermutlich eine Jahrhundertaufgabe gewesen.

Das könnte auch bedeuten, dass sie gar keinen Baum brauchten, sondern etwas anderes, dass Schutz bot… ein Gebüsch? Ein Felsen? Tjani kuschelte sich tiefer in ihre warmen Federn und seufzte. Es konnte alles sein, und sie würde umständlich am Tag suchen müssen, im Schnee.

An diesem Nachmittag stand Tjani sehr früh auf. Sie wollte jeden einzelnen Baum überprüfen, während die Sonne noch am Himmel stand. Die Bäume ganz oben am Hang hatte sie ausgeschlossen. Dort war es sehr windig, der Schnee lag hoch, und die Bäume waren knorrig und schütter. Wenn ihre Überlegungen stimmten, waren die Libellen eher am Boden des Tals zu finden, in der Nähe des Sees. Also würde sie zunächst alle Bäume am See überprüfen, dann alle Büsche, dann … irgendwie so. Systematisches Vorgehen, in jedem Fall.

Vielleicht hatten Libellen auch einzelne, weit verstreute Erdbauten…? Tjani seufzte und schüttelte den Kopf. Es musste möglich sein, sie zu finden, irgendwie. Sie würde nicht so schnell aufgeben, auch wenn ihr Proviant bald zu Neige ging. Es würde länger dauern, wenn sie für ihre Nahrung jagen musste, aber es würde gehen, auch wenn es hier sehr kalt war und der hohe Schnee es schwierig machte, Mäuse und andere Jagdbeute direkt ausfindig zu machen.

Tjani lauschte. Die Rufe der Vögel waren hier tatsächlich lauter als daheim; und es waren fast die einzigen Geräusche. Hier ein Knacken eines Astes unter der Schneelast, dort ein Rascheln in den toten Zweigen und Tannennadeln unterhalb des Schnees – aber wenig sonst. Hier oben schien die Welt noch immer in Winterstarre den Atem anzuhalten, obwohl der Frühlingsvollmond bereits voll am Himmel stand.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Koowu