8 Anan-Re / Jadeira
Tatsächlich hatte sie sich nicht getäuscht; nach ein paar Minuten kamen Herausforderer und Verteidiger des Stammes zwischen den Zelten herausgetreten. Moari wartete geduldig, bis alle acht Fremden zwischen den Zelten herausgetreten waren.
„Alawe Trakra-re, Jäger aus dem Stamm Alawe, Sohn von Derelija. Wählst du die Waffe oder den Ort?“ fragte Moari der Tradition entsprechend.
„Den Ort,“ erwiderte Trakra sofort. Moari nickte und bedeutete den anderen Jadeira, zwischen den Zelten zu warten, damit Trakra sich umsehen konnte. Anan schüttelte den Kopf über diese großspurige Entscheidung. Trakra war hier fremd, also hatte er kaum einen Vorteil davon, eine bestimmte Stelle der Steppe für den Kampf auszuwählen – außer vielleicht dem winzigen Vorteil, dass er unehrenhafte Fallen, die ihm ein besonders verschlagener Stammesführer vielleicht stellen mochte, vermeiden konnte. Im wesentlichen bedeutete Trakras Wahl, dass er sich zutraute, Moari mit jederlei Waffe zu besiegen.
Trakra ging mehrere Meter weit ins Grasland hinein, prüfte dort eine sandige Stelle und hier einen herabgefallenen Ast und schnupperte am Wind. Schließlich rief er seine Begleiter und befahl ihnen, im Kreis um die Stelle Aufstellung zu nehmen, die er ausgewählt hatte.
Sofort drängten sich die Jadeira um die Fremden, um einen guten Platz zu erhaschen. Trakras Berater waren allesamt genauso narbenübersäht wie er selbst; das harte Leben als Jagdgruppe sah man ihnen an. Auch jetzt sah Anan, wie sie ohne weitere Absprachen agierten und den Kreis auf die vorgeschriebenen 50 Schritte Durchmesser erweiterten, was viele neugierige Jadeira, unter ihnen auch die sieben Ratsältesten, die sich neben die Fremden gestellt hatten, rückwärts stolpern ließ.
Trakra selbst lockerte seine Muskeln mit geübten Bewegungen und streckte seine Beine. Er war wirklich etwas größer als Moari, glaubte Anan. Sein Gesicht wirkte verschlossen, die dunklen Augen ruhig und wachsam. Über seinen Rücken und seine Brust spannten sich lange, dünne Narben – so als sei Trakra vor langer Zeit zerfleischt oder von allen Seiten ausgepeitscht worden. Das sandfarbene Löwenfell aber war dick und glänzend, und Trakras dunkelbraune Mähne war zu langen Zöpfen geflochten, die ihm der Wind nicht ins Gesicht wehen konnte. Er sah mit jedem Zoll wie ein waghalsiger, starker Jagdgruppenführer aus. Kein Wunder, dass seine Dijadda ihm blind vertraute.
Moari war damit beschäftigt, seine lange schwarze Mähne zu einem hastigen Pferdeschwanz zusammen zu fassen, damit er keinen Nachteil gegenüber Trakra hatte. Dann trat er vor und hob die Arme. Sofort jubelten ihm die Jadeira zu – allein diese moralische Unterstützung würde es dem Fremden schwer machen.
„Der Kowa‘ wählt die Waffe!“ rief er laut, was erneut Jubel hervorrief. „Und ich wähle – die Leere Hand!“
Anan runzelte die Stirn. Moari hatte den waffenlosen Kampf gewählt. Dies war unter den nördlichen Stämmen sehr beliebt, denn der traditionelle Saddhaq wurde dann mit einem Tanz-Kampf ausgetragen. Schon schlugen die ersten Jadeira die mitgebrachten Trommeln an.
Vermutlich schätzte Moari Trakras Stärke größer als seine eigene ein und hoffte so auf eine gute Chance, nicht Kraft, sondern Geschicklichkeit und Wendigkeit in den Vordergrund dieses Kampfes zu rücken. Doch Anan konnte an Trakras Gesicht sehen, dass ihm Moaris Wahl nicht gefiel. Offensichtlich verstand er sie keineswegs als das Zugeständnis, dass es war, sondern eher als Beleidigung, denn ein waffenloser Kampf war natürlich ungefährlicher und führte nicht so oft zum Tode einer der beiden Kämpfer.
Anan sah, wie er ein paar Mal mit den Pranken stampfte, um seine Wut los zu werden, die er nicht in Worte fassen durfte.
Die Jadeira dämpften ihre Stimmen, dennoch klangen die verbleibenden Unterhaltungen fröhlich und entspannt. Anan sah sich um. Tief in ihrem Innern schien sich ein harter, fester Klumpen Besorgnis einzunisten, der schwer wie ein Stein auf ihrem vollen Magen drückte. Dieser Mann war gefährlich, das spürte sie jetzt. Hoffentlich unterschätzte Moari ihn nicht.
Anan kam es vor, als sei das Fest ein schrecklicher Fehler gewesen, der die Jadeira satt und träge gemacht hatte – ausgerechnet jetzt, wo sie wachsam und kampfbereit sein sollten.
Langsam begannen die Trommeln den Kampfschlag, der immer schneller werden sollte. Moari machte allerlei Verrenkungen, die mit Gelächter quittiert wurden. Dann nahm er Kampfhaltung ein und begann mit den ersten, vorgetäuschten Schlägen und Tritten. Trakra starrte ihn wütend an, ohne sich zu rühren. Moari wirbelte herum, um einen Schlag gegen seine Nase zu führen, den er nur wenige Zentimeter vor Trakras Gesicht abstoppte. Doch Trakra wich nicht zurück – er hob beide Hände mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung und führte genau einen Schlag: Gegen Moaris Kehle.
Es gab ein malmendes, ekelhaftes Geräusch, dann sackte der Kowa‘ der Jadeira röchelnd zu Boden. Trakra hatte ihm mit einem Griff den Kehlkopf zerquetscht.
Teilnahmslos sah der Fremde zu Anans Vater hinunter, der mit beiden Händen seine Kehle umfasst hatte und mit lautlosem Entsetzen nach Luft rang.
Die Trommeln verstummten; entsetzt starrten alle Jadeira auf ihren Anführer. Es waren lange, fassungslose Sekunden, in denen sich niemand regte – alle außer Anan, die zu ihrem Vater stürzte und seine Hand nehmen wollte.
„Helft ihm doch!“ schrie sie verzweifelt, „helft ihm!“