Juli 14

7 Anan-Re / Jadeira

Später, als Kimar und Anan aus dem Wäldchen herauskamen, sahen sie sich vorsichtig um. Eigentlich hatten sie getrennt zum Lager zurück schleichen wollen, doch sie schafften es nicht, sich zu trennen.
Immer wieder überfiel der eine den anderen mit einer wilden Attacke aus Küssen und Bissen – auf diese Art und Weise hatten sie gut die vierfache Zeit gebraucht, um überhaupt die halbe Strecke bis zum Lager zurückzulegen. Das seltsame Lied und die verrückte Forderung ihres Großvaters hatte Anan inzwischen so gut wie vergessen.
Doch auch die zwei Jungverliebten, blind für alles außer sich selbst, merkten beim Betreten des Lagers, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Es war still zwischen den Zelten, viel zu still.
Als dann ein lautes, fremdes Brüllen erklang – es gehörte zu keinem der Jadeira aus dem Lager, das wusste Anan sofort – war aller jugendlicher Leichtsinn verflogen. Gemeinsam, ohne sich auch nur einmal anzusehen, rannten Kimar und Anan zum großen Platz in der Lagermitte, wo das Kochfeuer brannte und das gestrige Fest gefeiert worden war.
Ausnahmslos alle Jadeira standen dort versammelt, Anan konnte nicht erkennen, was sie anstarrten.
Sie hörte eine fremde, dunkle Stimme, die eine wohl gerade begonnene Rede fortsetzte.
„…dann, wie es Tradition ist, fordern ich und die Meinen den Saddhaq. Ich bin Trakra Narbenhaut, vom Wurf von Derelija von den Alawe.“
Gemurmel und Geflüster setzte ein, und Anan setzte Pranken und Ellenbogen ein, um sich einen Platz zu erkämpfen, von dem aus sie wenigstens irgendetwas sehen konnte.
Schließlich hatte sie sich so weit durchgedrängelt, dass sie die Kehrseite des fremden Herausforderers sehen konnte.
Sie nickte anerkennend – er war groß, kräftig, und sein Rücken – das einzig erkennbare aus dieser schlechten Position – breit und gerade. Ein guter Gegner für ihren Vater Moari; als Kowa‘ der Jadeira war es seine Aufgabe, diese Vorrangstellung zu verteidigen. Anan spürte die Aufregung in der Menge; einen Saddhaq, den traditionellen Zweikampf um die Stammesführerschaft, sah man höchstens drei mal in zehn Jahren und meistens deutlich seltener.

Sie sah sich nach den anderen Herausforderern um, Trakra konnte nicht alleine gekommen sein. Sie machte sie schnell aus, denn sie hielten sich abseits von den neugierigen Jadeira zwischen den Zelten. Auch das eine schon lange bestehende Tradition: Der Saddhaq musste vom Anführer einer Jagdgruppe gefordert werden. Falls er tatsächlich gewann, würden seine Begleiter mit den Stammesältesten um die Ehre kämpfen, Ratgeber des neuen Kowa‘ zu sein.

Anan zählte sieben Fremde zwischen den Zelten, also waren es mit Trakra insgesamt acht Herausforderer. Eine gute Zahl, vermutlich eine seit längerem eingespielte Jagdgruppe. Anan kannte den Stamm Alawe, den Trakra als seine Herkunft angegeben hatte, nicht, doch seine dunkle Haut und die zusammengewürfelten Begleiter ließen sie vermuten, dass die Alawe ein weit entfernter, südlicher Stamm waren und Trakra einen weiten Weg bis zu den Jadeira hinter sich gebracht hatte. Bei allen Stämmen vom Löwenschlag war es Tradition, dass die jungen Männer, die ihr fünfzehntes Lebensjahr überschritten hatten, ihren Stamm verließen. Sie wanderten allein umher, schlossen sich anderen einzelnen Jägern an und bildeten eine Dijadda, eine feste Jagdgruppe, in der sie auch ihren Rang untereinander festlegten.

Wenn solch eine Dijadda meinte, dass sie dazu stark genug sei und ihr Anführer sich einen guten Namen mit seinem Jagdgeschick gemacht hatte, suchte sie eine lagernde Stammesgemeinschaft auf und forderte den Saddhaq, um sie zu übernehmen. Die Kämpfe waren eine stete Herausforderung für den Kowa‘, den Anführer solch einer Gemeinschaft, und sorgten dafür, dass er stark und wachsam blieb. Außerdem waren sie eine willkommene Unterhaltung für die Frauen und Kinder des Stammes.

Natürlich gab es auch Jagdgruppen, die keine Gemeinschaft übernehmen wollten oder konnten. Oft setzten sie sich aus schwächeren oder älteren Männern zusammen oder auch aus Stammesführern, die ihre Gemeinschaft bei einem Saddhaq verloren hatten und die zu alt waren, um erneut zu kämpfen. Diese Jagdgruppen wurden Queddas genannt und waren in den Lagerzelten aller Löwen hochwillkommen, denn sie sorgten für den Handels-, Wissens- und Warenaustausch zwischen den einzelnen Stämmen.

Kimar, Anan sah es schon vor sich, würde natürlich Kowa‘ einer Jagdgruppe werden, sich einen guten Namen machen und dann ihren Vater Moari in einem freundschaftlichen Saddhaq ablösen. Trakra, so stark er auch sein mochte, sah sie nicht als reale Bedrohung für die Stellung ihres Vaters an. Moari war ein erfahrener, schneller Kämpfer und ein sehr guter Jäger. Er würde Trakra besiegen, so wie die anderen Herausforderer in den zwei Saddhaqs zuvor, die Anan in ihrem Leben bisher zu sehen bekommen hatte.

Dennoch – erst ein Fest und dann noch ein Saddhaq! Anan meinte, die Stimmung der Menge wie die Strömung des Windes über den Dünen beinahe sehen zu können. Soviel Unterhaltung hatte es seit Jahren nicht gegeben; viele freuten sich auf noch einen Tag Nichtstuerei und das unvermeidlich folgende zweite Fest.

Anan boxte sich, rückwärtsgehend, wieder aus der Menge heraus – der Saddhaq würde aus Platzgründen nicht auf dem Lagerplatz stattfinden, sondern vor den Zelten im offenen Jagdland. Wer zuerst zwischen den Zelten herauskam, hatte die beste Chance auf einen guten Sichtplatz.
Sie brauchte nicht zuerst noch Moaris traditionelle Erwiderung auf Trakras Herausforderung zu hören, denn ablehnen konnte er sie so oder so nicht. Dennoch blieben die meisten Jadeira stehen und warteten auf die Rede ihres Kowa‘; Anan dagegen suchte sich schon einmal einen guten Platz im offenen Grasland.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira