5 Tjani / Koowu
Tjanis Tagschlaf endete viel früher als geplant, Die Sonne stand gerade erst eine Flügelbreite im Westen, als irgendein Tagvogel Tjanis Ruheplatz entdeckt hatte und laut schimpfend versuchte, die Eule zu vertreiben. Mehrere andere schlossen sich an, und schließlich war es für Tjani unmöglich geworden, sie weiterhin zu ignorieren. Seufzend schüttelte sie die Federn zurecht und räumte den Baum, das erboste Gezwitscher und Gekrächze hinter sich lassend.
Fürs erste würde sie nicht wieder einschlafen. Außerdem – sie wusste nicht, wie lange sie wirklich bis zum Großen Baum der Libellen brauchen würde; niemand hatte die Strecke je als kurz bezeichnet. Wäre es nicht wundervoll, wenn Sie zurückkommen und alle über ihre noch nie dagewesene Schnelligkeit staunen würden? Mit diesem ehrgeizigen Gedanken im Kopf hockte Tjani sich auf einen anderen Ast und nahm ein kaltes Frühstück aus getrockneten Fleischstreifen und Wasser ein, bevor sie eilig ihren Weg nach Osten fortsetzte.
Irgendwann gegen Abend allerdings begann sie doch wieder, müde zu werden; so müde, dass ihre Entschlossenheit zu wanken begann. Sie flog noch eine Stunde in die Dunkelheit hinein, kämpfte sich mit vielen kleinen Pausen durch die zweite, doch als die dritte Nachtstunde anbrach, brauchte Tjani unbedingt etwas Schlaf, so merkwürdig ihr das auch mitten in der Nacht erschien.
Der Wald hatte sich verändert; hier standen Fichten und Tannen viel dichter als die ihr altbekannten Buchen und Eichen, und der sanft ansteigende Boden war dick mit weichen braunen Tannennadeln bedeckt. Er schien alle Geräusche zu dämpfen; in ihrer Schläfrigkeit hatte sie das Gefühl, ihr lautloser Flug fände durch eine Welt der Stille statt, einer Welt ohne Wind und ohne weiteres Leben außer ihr selbst.
Schließlich fand sie einen taumelnden Halt an einem schwankenden Fichtenast. Obwohl vermutlich bessere Lagerplätze in der Nähe waren, schloss Tjani sofort die Augen und kuschelte den Kopf in die Federn. Selbst den Wunsch nach Nahrung hatte die Müdigkeit in ihr verdrängt.
So kam es, dass die Mitternacht eine hungrige, verschlafene Eule vorfand, die sich erst einmal die Augen reiben und sich verstohlen umsehen musste, um zu wissen, wo sie sich eigentlich befand. Ein leises Zischen schien von überall her gleichzeitig zu kommen, und war es schon wieder Morgen…? So hell war es doch vorhin nicht gewesen… ah. Es schneite wieder; dicke Schneewolken ließen dem Vollmond kaum eine Chance, sein Licht bis auf den Erdboden dringen zu lassen. Immer noch wehte keinerlei Wind, und durch das Fichtendickicht drang kaum eine Schneeflocke bis auf den Boden. Dennoch glänzte der Schnee, der die oberen Zweige bedeckte, stumpf im Mondlicht wie angelaufenes Silber. Tjani lächelte unbewusst.
Ihr war schon länger klar, dass sie für das Leben im Großen Baum der Koowu nicht so gut geeignet war wie die anderen. Sie war jemand für draußen und würde es immer bleiben. Fliegen und frei sein – das gehörte für sie zusammen wie kaum etwas sonst. Die anderen Eulen… nun, es gab ein oder zwei Freunde für Tjani, wenn sie sich auch in letzter Zeit sogar von ihnen ein wenig zurückgezogen hatte, doch würde sie nie eine der Beliebten, eine der Wichtigen in der Gemeinschaft der Koowu sein; eine, die etwas zu sagen hatte.
Sie hatte eine Weile gebraucht, um das zu begreifen.
Aber mit dem Wald, mit der wilden Welt da draußen, verband sie viel mehr als mit ihrem Volk und mit ihrer Sippe. Sie sehnte sich nur selten nach Gesellschaft und Kurzweil, und wo Andere Mode und andere Äußerlichkeiten als überaus wichtig erachteten, da hatte Tjani nur ein leises Lächeln für solchen Tand übrig. Sie konnte sich um keinen Preis vorstellen, ihr ganzes Leben im Großen Baum zu verbringen und die Außenwelt als merkwürdige, ferne Gefahr zu betrachten, wie es einige ihrer Gesippen taten.
Sie würde Jägerin sein und bleiben. Draußen, in den von ihr so geliebten Wäldern; auch oder gerade deswegen, weil dieser Wald den Tod zu ihren Eltern gebracht hatte.
Tjani hatte viel über all dies nachgegrübelt, aber alles Grübeln der Welt hatte ihr nicht geholfen, sich mit dem Tod ihrer Eltern abzufinden. Immer wieder fragte sie sich wer – oder was – wohl das letzte gewesen war, das ihre Eltern gesehen hatten.
Was hatten sie gefühlt? Was nur, was war dort draußen passiert?
Tjani konnte sich nur schwer damit abfinden, dass sie es vermutlich nie herausfinden würde. So blieb ihr nur die Vorstellung, ein geheimnisvolles, schwarzes Ding habe ihre Eltern geraubt, ein Jäger in der Nacht, der andere Jäger erbeutete.
Tjani schauderte zusammen und legte dann ihre Federn ordentlich an. Dann hob sie ab, flog noch eine kurze Runde über den schneebeladenen Fichten zur Orientierung und folgte dann wieder dem Vollmond nach Osten hin, über den unendlich scheinenden Wald.