5 Anan-Re / Jadeira
Es dämmerte gerade erst, als Anan zurück zu den Zelten kam. Kimar schlief noch zwischen den raschelnden Palmenblättern, und Anan hatte sich am Wasserloch der Oase gewaschen und frisch gemacht, bevor die Sonne so hoch stand, dass der Schweiß ihre Bemühungen gleich wieder fortwusch.
Nun war sie auf der Suche nach einem kräftigen Frühstück – vielleicht war noch ein wenig Fleisch von ihrer Beute übrig? Als sie sich umsah, entdeckte sie Großvater Maror, der sich direkt an der großen Feuerstelle des gestrigen Festes niedergelegt hatte.
Sein Gesicht war vor ihr verborgen, doch er lag lang hingestreckt vor der letzten Glut und lag direkt im Weg zu den letzten Fleischbrocken, die noch an den Knochen über der Feuerstelle hingen.
Leise, um ihn nicht zu wecken, schlich sie sich näher. Doch plötzlich sah Maror auf und lächelte sie an. Vielleicht war sie zu laut gewesen? Unmöglich. Er musste schon wach und nur am Nachdenken gewesen sein.
„Anan-Re. Genau Dich wollte ich sprechen. Bitte, leg Dich zu mir.“ Während Maror sich aufrichtete, um ihr Platz zu machen, kauerte sich Anan auf ihre vier Pfoten vor den Ältesten. Er war nicht größer als sie, bemerkte sie zufrieden.
„Ich… habe dieses Gespräch ein wenig hinausgezogen. Heute jedoch duldet es keinen Aufschub mehr. Anan-Re, Deine Jagd war die Beste in diesem Jahr, das weißt Du sicher selbst.“
Anan nickte stolz; sie wusste es.
„Nun gibt es einen Spruch, der einst von Karaty-der-Weisen getan wurde. Hör mir zu.“
Anan spitzte die Ohren, und Maror begann, mit leiser Stimme zu singen. Es war eine seltsame, eingängige Melodie, die zu hüpfen schien wie Wüstenmäuse auf einer heißen Sanddüne.
Der Eine kommt:
das Juwel, das niemand erringen kann
glitzert nicht nur in der Schwärze,
sondern auch in der Helle.
Der beste Jäger, der mit den hellen Augen
muss seinen Speer nehmen
und ihm nachfolgen,
dorthin, wo er selbst das Wild ist.
Er allein muss jagen, muss finden
was die Welt bedroht,
lernen, selbst Beute zu sein.
Seine Jagdbeute ist
aus kleinen Teilen gemacht
und wird ihm den Weg zeigen
zum großen Opfer.
Flammen und Feuerhitze
soll er bringen
zu dem, der seiner Hilfe bedarf.
Die Eine kommt:
Habt Wacht
und schickt den Jäger
mit den hellen Augen.
Anan hatte Maror aufmerksam zugehört, wurde aber aus den Worten, die in der springenden Melodie gefangen waren, nicht recht schlau. „Sing es noch einmal, Yanta-ulu,“ bat sie Maror, „es klingt hübsch.“
Ihr Großvater schüttelte traurig den Kopf. „Es ist kein Lied, das seiner Schönheit wegen gesungen wird, Enkeltochter. Die Seherin hinterließ diese Worte vor vielen Generationen. Sie wurden unter den Ältesten vererbt; wir alle versuchen seit jeher, hinter ihre Bedeutung zu kommen. Ich.. wir alle glauben, dass der neue Stern das Juwel ist, das niemand erringen kann.“
Maror nickte kurz zu dem im Morgenlicht seltsam hell erscheinenden Stern hinüber, der im Norden stand. Er war vor beinahe sechs Monaten erschienen und hatte alle Jagden des Sejtenq-Wurfes gesehen. Die Antilope, die Anan alleine erlegt hatte, war das größte Beutetier der neuen Stammesjäger gewesen. Auch Kimar hatte eine Antilope erlegt, ein kleines Jungtier allerdings, an das er sich in vielen geduldigen Stunden angeschlichen hatte. Anans Jagd dagegen war so reibungslos und schnell gegangen, das die Wahl des Sterns eindeutig schien. Maror seufzte.
„Und… und das heißt?“ fragte Anan misstrauisch.
„Das wissen wir nicht, Anan-Re. Soweit wir den Spruch bis jetzt enträtseln können, sollst Du nach Norden ziehen, in Richtung des Neuen Sterns, und etwas finden, das unsere Welt retten kann. Was das jedoch sein könnte – du hast selbst gehört, dass der Spruch nur sagte, es sei aus vielen kleinen Teilen gemacht. Vielleicht bist Du die einzige, die dieses Ding finden kann.“
Maror seufzte erneut. Es war sehr schwer, die eigene Enkeltochter von den heimatlichen Zelten fort zu schicken, doch er war überzeugt, dass es auf irgendeine Art und Weise nötig war.
„Aber…!“ Anan schüttelte wild den Kopf. „Niemals!“ rief sie. „Ich gehöre hier her! Und unsere Welt ist überhaupt nicht in Gefahr! Wodurch denn?“
Maror schien ein wenig kleiner zu werden, das Gesicht älter und müder. Die buschigen weißen Augenbrauen zogen sich zusammen, als er zu Anan aufsah. „Ich weiß es nicht, Enkeltochter. Wüsste ich es, hätte ich mich wohl kaum so lange mit Grübeleien abgegeben.“ Eine seiner Pranken deutete auf die schwelende Glut und den immer noch sehr appetitlich duftenden Fleischrest auf dem Spieß über dem Feuer.
Anan stapfte vor Wut mit der Pranke auf. „So ein Unsinn!“ ereiferte sie sich. „Das lässt Moari niemals zu! Und ich werde ihn bestimmt nicht davon überzeugen, seine Meinung zu ändern. So ein… so ein… Unsinn!“
Anan hielt es nicht am Feuer. Aufgebracht trabte sie davon, die langen sandfarbenen Haare mit den bunten Perlen darin hinter sich herschleudernd. Maror sah ihr nach – er hatte gefürchtet, dass dieses Gespräch derartig ablaufen würde. Aber irgendwo musste er anfangen. Er seufzte ein drittes Mal und wandte sich dann um, um ins große Ratszelt zu gehen, wo Moari schlief. Leise weckte er ihn, um mit ihm ein ganz ähnlich aussichtsloses Gespräch mit demselben Inhalt zu führen.