4 Tjani / Koowu
Tjani war nach der Unterredung mit Walja-lu sofort losgeflogen, das Tragetuch mit zwei geschickten Knoten um ihren Bauch gebunden, damit es ihren lautlosen Flügelschlag nicht behinderte. Sie genoss die kühle Nachtluft und das helle Licht der Sterne über den kahlen Zweigen des großen Waldes. Es lag noch immer Schnee auf dem dunklen, gefrorenen Waldboden, dort unten, und Tjani wusste aus eigener Erfahrung, dass es in diesen Wintermonaten am schwersten war, Nahrung für die Koowu zu finden. Die Jäger leisteten ganze Arbeit, um genug Fleisch für alle heranzuschaffen, und so, wie es aussah, würde der Winter noch eine ganze Weile anhalten, Frühlingsvollmond hin oder her.
Auch deswegen war sie über eine Pause in diesem ständigen Bemühen dankbar. Und dann, dachte sie bei sich, sehe ich den Libellenschlag! Sie war noch nie länger als eine Tagesreise vom großen Heimatbaum fort gewesen – diese ungeschriebene Gesetzmäßigkeit galt für alle jungen Eulen – und auch nicht im mindesten traurig darüber, dass sie den Großen Tanz verpassen würde. Im besten Fall könnte sie sich von dieser verpflichtenden Veranstaltung früh zurückziehen – im schlimmsten würden Falett und ihre Freundinnen sie finden und erneut als Hauptgegenstand ihrer Neckereien in Anspruch nehmen. Es könnte sich auch einer der älteren Jägerinnen berufen fühlen, mit ihr über den Tod ihrer Eltern sprechen zu wollen – und dieses teils aufrichtige, teils geheuchelte Mitleid und die beinahe unersättliche Neugier an der Qual der jungen Eule war mehr, als Tjani ertragen konnte.
Tjani hatte ein gutes Stück des Weges geschafft, als der Himmel im Osten heller wurde. Obwohl das in ihre Augen fallende Licht sie ermüdete, flog sie noch eine ganze Stunde lang weiter in den Sonnenaufgang hinein, bis die Macht der Sonne sie dazu zwang, eine Pause einzulegen. Sie suchte sich eine feste Eiche als ihren Schlafplatz an diesem Tag aus und kuschelte sich an die Rinde, begleitet vom Chorus der Tagvögel, die nun gerade erwachten. Der Baum hatte wohl vom Frühling noch nicht viel mitbekommen – er klammerte sich an seine alten, braunen Blätter wie an einen Schatz, während die neuen noch in ihren Knospen schliefen. Tjani kauerte sich in geübter Haltung zusammen, um möglichst viel der eigenen Körperwärme halten zu können, und schloss die Augen. Was für eine aufregende Nacht! Morgen würde sie die Grenzen der ihr bisher bekannten Welt überschreiten. Was für ein Gedanke!
Sie fühlte sich frei; entbunden von den zahllosen Pflichten und Vorschriften, die es im Großen Baum nun einmal gab. Ihre letzten, schläfrigen Gedanken galten ihrer Mutter; ihrem immer ein wenig traurigen Lächeln. Irgendwo hier draußen waren ihre Mutter und ihr Vater etwas Unbekanntem zum Opfer gefallen.
Tjani hatte lange geweint, den Verstorbenen Vorwürfe gemacht, warum sie fort gegangen waren und sie im Großen Baum allein gelassen hatten. Jetzt, an der Schwelle des Unbekannten, Fernen, konnte sie zumindest einen Teil der Beweggründe ihrer Eltern verstehen.