4 Jori Gid’eron / Ada
Jori weinte lange, versuchte, mit Vater und Mutter zu sprechen, doch beide taten nur so, als hörten sie ihn nicht. Jetzt rückblickend erkannte er, dass sie den Beschuldigungen gegen ihn geglaubt haben mussten, sonst hätte nichts auf der Welt sie daran hindern können, ihren Ziehsohn weiterhin zu unterstützen. Doch damals, vor diesem langen, kalten Winter, hatte er es nicht verstanden, hatte ihnen Vorwürfe gemacht und in die stummen, verschlossenen Gesichter geschrien, die so taten, als bemerkten sie seine Anwesenheit nicht. Niemand von den Ada sprach noch ein Wort mit ihm, alle wichen seinem Blick und seinen Berührungen aus, egal in welches Territorium er auch ging. Verzweifelt erkannte Jori, dass er hier – bei seinem eigenen Volk – den Winter auf keinen Fall überleben würde. Er würde fort gehen müssen, weit fort – irgendwohin, wo es andere Stämme gab.
Er stahl soviel an Nahrung, wie er tragen konnte, nahm seinen Speer und seinen Bogen an sich, seine Angelschnur und sein Steinmesser, drei Felle und die wenigen Habseligkeiten, die er als sein eigen auf dieser Welt betrachte. Es schmerzte ihn sehr, dass er sie teilweise aus den Hütten der anderen Ada stehlen musste, die sie an sich genommen hatten. Sein Messer nahm er aus Ayles Hütte; es lag neben ihrer Hängematte.
Dann ging Jori fort, am Jägerstein vorbei nach Süden, gegen die Fließrichtung des großen, behäbigen Moth-Flusses… immer in der Hoffnung, dass er vielleicht bald auf andere Stämme stoßen würde oder nach Süden hin wenigstens dem herannahenden Winter noch ein wenig länger würde entkommen können.
Ayle saß auf dem Stein, als er ging, doch sie hatte ihm keinen Blick geschenkt und tat es auch jetzt nicht.
Den Kopf gesenkt, trottete Jori voran, immer weiter fort von dem geliebten Herz des Wilden Waldes, von den riesengroßen Bäumen und den Ada, die er als seine Familie angesehen hatte.
Der Winter senkte sich schwer auf seinen Körper und auch auf seine Seele. Er weinte viel, denn sein Körper litt Hunger und sein Geist sehnte sich nach Gesellschaft.
Die Vorwürfe, die abweisenden, von seiner Schuld überzeugten Gesichter, drängten sich in seinen Schlaf und weckten ihn, und bald glaubte sich Jori selbst schuldig. Vielleicht hatte er sich ja wirklich falsch verhalten? Hätte er seinen Platz an Mela’chaks Schlafmatte nicht Unnin überlassen müssen? Brachte er wirklich Unglück, und wenn ja, wodurch? Durch eine Berührung? Oder nur durch seine Anwesenheit allein? Hätte er Mela’chak nicht berührt, hätte das einen Unterschied gemacht? Hätte der alte Mann vielleicht nicht sterben müssen, wenn er die richtigen Kräuter gegen den Tod gekannt hätte? Warum, wenn Mela’chak sie kannte, hatte er sie nicht in seinem Haus und ihm erklärt, wie man sie anwendete? War alles, was er gelernt hatte, denn ein Fehler gewesen; nur ein Trugschluss, dass es ihm nützlich sein könnte?
Der Winter war lang und hart, und Jori war so ganz und gar allein wie nur wenige Menschen zuvor. Seine Pfoten, an derartig lange Wanderungen noch nicht gewöhnt, wurden bald rau und wund und hinterließen kleine, blutige Spuren im schneeigen Untergrund. Keinen Tag gab es, an dem Jori nicht fror und Hunger litt, keine Nacht, in der er nicht geweint hätte um seine verlorene Familie und sein verlorenes Heim, seine wenigen Freunde und um einen einzigen, anerkennenden Blick von Ayle. Nur der Wald war um ihn, schweigend und schlafend, und bald bildete Jori sich ein, er könne die Geister der Toten zwischen den Bäumen sprechen hören, wie sie ihm Geschichten von ihrem eigenen Leid erzählten… davon, wie sie gestorben waren.
Friedvolle Tode gab es und grausame, Menschen, die mit erhobenem Haupt zu den Großvaterbäumen gegangen waren und solche, die sich mit Klauen, Händen und Zähnen an der Grünen Welt festgehalten hatten, weil sie Angst vor dem hatten, was sie vielleicht dort erwartete. Aber bald erzählten sie ihm, dass das Hinlegen, das Aufgeben und Einschlafen gar nicht schlimm sei, viel einfacher als das Atmen und Frieren und das sinnlose immer und immer Weitergehen.
Jori versuchte, sie nicht zu beachten. Doch da begannen die Geister zu singen. Wunderschöne, verlockende Stimmen erhoben sich im Wind und trugen ihn mit sich fort in ein warmes, schönes Land, in dem immer Sommer war und man die dicken Flussfische mit der Hand greifen konnte, wo rot-goldene Beeren an den Sträuchern hingen und Fleisch zum Trocknen über dem Feuer.
Nicht allzu lange dauerte es, bis Jori aus seinem wunderschönen Traum erwachte, schluchzend wie ein kleines Kind, weil er die überwältigenden Farben und die wohlige Wärme nicht gehen lassen wollte.
Doch seine Glieder waren steif und schmerzten vor Kälte, in seinen Haaren hing der Schnee, und neben ihm im Fluss trieben kleine Eisschollen im kalten Wind hangabwärts – und Jori wusste, wie nahe daran er gewesen war, zu erfrieren.
Viele Tage ging Jori am Fluss entlang. Ungezählte Tage nagenden Hungers, gefolgt von bitterkalten Nächten. Noch drei Mal hatte er solche Träume und seine liebe Not damit, wieder in der wirklichen, grausamen Welt aufzuwachen, ehe er sich ganz und gar der Kälte ergeben musste.