Juli 14

25 Anan-Re / Jadeira

Ihr entkräfteter Körper hielt die ganze Nacht lang durch – Anans eiserner Wille sorgte dafür. Doch als die Sonne aufging, suchte sie sich ein Versteck zwischen den rotbraunen Felsen – nachdem sie vorher noch eine volle Stunde damit zugebracht hatte, ihre Spuren hierher so gut als möglich zu verwischen.

Als sie in dem schattigen Einschnitt zwischen zwei sandigen roten Felsen lag, übermannte sie der Schlaf mit der Wucht einer Keule.

Sie erwachte zerschlagen und durstig, mit unangenehmen Kopfschmerzen. Das war vorhersehbar gewesen. Vorsichtig sicherte sie nach allen Seiten, bevor sie sich erlaubte, einen Schluck aus dem Wasserschlauch zu nehmen.

Anan war fast am Ende ihrer Kräfte, als sie am nächsten Morgen an der Wasserfall-Oase ankam. Sie hatte den ganzen langen heißen Vortag in der Felsspalte geruht, Hitze, stickige Luft und den quälenden, immer wiederkehrenden Durst ertragen und war dann bei Einbruch der Dämmerung mit steifen Beinen losgestolpert, immer in Richtung des Habichtauges. Es war schon zwei Stunden nach Sonnenhoch, als sie die Wasserfall-Oase erreichte.

Das Licht dieses neuen Tages schien Anan zu gleißend, zu hell, der Wind zu heiß und zu trocken, und jede Bewegung, jeder Schritt war eine widerwillige Anstrengung. Anan konnte sich auf ihren Körper verlassen, hatte sich immer auf ihn verlassen, und bei den langen Jagdzügen oder der schnellen Verfolgung der Zebra- und Antilopenherden hatte er sie nie enttäuscht.

Aber nach der Nacht und der Folter durch Traka, nach all den schlimmen Erlebnissen und Toten schien der Schmerz in ihrer Seele ihren Körper auszulaugen und zu schwächen. Sie zwang sich weiter. Vielleicht war Kimar noch zu retten – sie musste nur rechtzeitig…. der Geruch an der Wasserfall-Oase verhieß nichts Gutes.

Geier folgen krächzend auf, als Anan in der Sandsteinschlucht eindrang, wo Wasser aus einer unterirdischen Ader zwischen den gelben Felsen entsprang, in einem fröhlich rauschenden Wasserfall in die Tiefe stürzte und am Grunde der Schlucht einen seichten, pfeilspitzenförmigen See formte. Palmen, Schilf, Gräser wuchsen dort und hundert verschiedene Vogelarten nisteten auf den schmalen, terrassenförmig abgestuften Sandsteinfelsen, so dass ihr Gekreisch in der Schlucht nimmerendend widerhallte.

Die Schlucht war zu eng für eine Siedlung oder auch nur einen längeren Aufenthalt, aber es war sauberes und sicher vorhandenes Wasser, auch in der Trockenzeit, darum war die Oase in der weiten Umgegend bekannt und wurde regelmäßig von den Hirten mit ihren Viehherden aufgesucht.
Ringsum erstreckte sich Geröllwüste, durchzogen von weiteren, tiefen Spalten, an deren Grund teilweise ganze Dickichte und Haine schwarzer, krummer Bäume und Büsche wuchsen.

Anan wusste, wo die Übungen abgehalten wurden. Es war ein Seitenteil der Wasserfallschlucht, in der ein dünnes Rinnsal mündete und dort auch versickerte. Der Boden dieses Seitentals war sandig und beinahe topfeben, und die Sandsteinwände trugen die Speernarben von vielen Generationen der Jadeira, die hier ausbildet worden waren.

Während der Regenzeit war das ganze Gebiet knöchelhoch überflutet, wusste Anan.

Aber die Regenzeit kam nicht mehr so zuverlässig und kräftig wie früher, so dass die Hirten angefangen hatten, ihre Tiere zwischen den bekannten Oasen hin- und herzutreiben, und es teilweise zu erbitterten Fehden über Wasserrechte und Wanderrouten gekommen war.

Im Süden muss es noch schlimmer sein, dachte Anan kurz, bevor sie die Oase erreichte. Vielleicht waren Trakra und seine Gefolgsleute deshalb gezwungen, so weit nordwärts zu wandern. Anan dachte an all die Narben, die die Haut des toten Kowa‘ geziert hatten, und sofort überfiel sie ein beängstigend deutliches Déjà-vu der furchtbaren Nacht, der Vergewaltigungen und der Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte.

Er wäre besser im Süden geblieben und verhungert, versuchte sie den Gedanken abzuschütteln, aber zäh wie Baumharz klebte er an ihren Gedanken und machte ihr Hände schlüpfrig und zitterig, als sie den Abzweig in den Seitenarm der Schlucht nahm.

Dort erwartete sie alles genau so, wie sie es befürchtet hatte. Die verwesenden, aufgedunsenen Leichen der Kinder lagen fast alle der Größe nach geordnet aufgebahrt entlang der Felsen, teilweise noch mit ihren Speeren in den Händen.

Qechi musste sie von hinten angefallen und die Kehlen aufgerissen haben. Anan stürzte hin, aufschluchzend, als sie auch Kimar unter den Toten fand. Tränen nahmen ihr die Sicht, aber sie wusste, dass hier aller Hader und Schmerz umsonst war: Sie war zu spät, viel zu spät gekommen, und Tränen interessierten die Toten nicht.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira