August 5

24 Jori Gid’eron / Ada

In dem rasenden, fallenden Dunkel gefangen, wusste er, dass er in einem Traum war. Seine Gefühle und Instinkte waren wieder einmal weit fort; es war, als ob Jori nur noch aus Augen bestand, die zu sehen hatten, was die Quelle mitteilte.

Jori fiel. Jori flog. Jori schwebte. Er wusste nicht genau, was von alledem – vielleicht auch etwas dazwischen. Er wusste nur, dass es dunkel war, nicht warm und nicht kalt – als hätte er alle seine Sinne dort oben auf der Erde zurückgelassen. Dann sah das Auge. Es war ein Tunnel aus Licht, gelbes, grünes – an den äußeren Enden leicht zugespitzt und in der Mitte mit einer katzenartig geschlitzten, lichtlos schwarzen Pupille. Ein riesenhaftes Auge mitten im Nichts. Jori wurde das Gefühl nicht los, es sei eine Sie, die da starrte, obwohl außer dieser einen riesenhaften Iris rein gar nichts in der Schwärze zu erkennen war. Sie starrte ihn an, wie er fiel. Oder schwebte. Tief, tief hinab, so tief, dass er das Gefühl hatte, schon wieder zu steigen, hinauf zu fliegen auf dieses riesige Auge zu. Er hätte schreien können vor eisig-kaltem Entsetzen, erfüllt von der Angst, auf dieses riesenhafte und rätselhafte Gebilde zu prallen oder daran zerquetscht zu werden – aber er hatte keinen Mund. Er hatte auch keine Ohren, mit denen er seinen eigenen Schrei hätte hören können. Er war nur noch Geist, nur noch ein winziges Fünkchen Sein, und wovor er am meisten Angst hatte, war dass dieses riesenhaft strahlende Gebilde sein glühwürmchenschwaches Leuchten überstrahlen und auslöschen würde, ohne davon auch nur Notiz zu nehmen.

Das Auge füllte seine gesamte Wahrnehmung, kam näher und näher und Jori verschwand in der lichtlosen Schwärze der rätselhaften Katzenpupille, groß wie die Welt. Dann kehrten seine Sinne wieder. Hören – das Geräusch des Windes, der durch seine Haare strich. Fühlen – die Luft, die an ihm vorbei strömte, während er weiter und weiter aufwärts flog. Sehen – einen mächtigen Sonnenaufgang, der eine große schneeige Bergkette im Süden beleuchtete, deren majestätisch graue Gipfel sich weit über die dampfigen Wälder erhoben, in denen der Nebel hing. Wunderschön – und keineswegs real. Zumindest nicht für Jori, denn irgendwie wusste der Ada-Junge, dass er neben seinem Feuer am fernen Ende des Sees lag und träumte.

Er hatte sogar einige Momente lang das Gefühl, er könnte sich von dieser Vision lösen, sein Bewusstsein in seinen Körper zurückzwingen, wenn er es wirklich wollte.

Er spürte, er war nicht allein am Feuer. Jemand war da und achtete auf ihn. Aber auch in seiner Vision war er nicht mehr allein. Er flog im Verbund mit drei anderen Albae, die weißen Federn über den heller werdenden Himmel gebreitet.

Und sie alle vier zusammen trugen etwas, ein silbrig glänzendes Ding das… böse war. Jori konnte es nicht anders beschreiben, er wusste nicht welchen Zweck dieses Ding erfüllte und konnte sich auch nicht vorstellen, wie eine Pflanze oder ein Tier aussehen musste, das dieses Ding hervorgebracht haben könnte. Ein wenig glänzte es wie sein Zunje, das er seltsamerweise wieder um den Hals trug. Aber dieses Ding war groß, sehr groß und schwer und… verschachtelt, verzweigt und verworren.

Es war schwierig in Formationen zu fliegen, aber seine drei Begleiter und er hatten das tage- und wochenlang geübt, wusste er plötzlich.

Jetzt konnte es nicht mehr allzu weit sein bis zu dem Bergdorf der Falkensippe, ja, da wurde es deutlich sichtbar an dem schroffen Berghang, den sie anflogen.

Es waren anders gebaute Häuser als die mit den goldenen Dächern der Stadt am See, Lebanis. Die Gebäude waren eher kuppelförmig, bunt bemalt und mit vielen Ein- und Ausgängen in allen Himmelsrichtungen versehen. Die meisten waren aus Lehm und Holz geformt worden und sahen so aus, als würden sie nur das allernötigsten an Regen und Schnee abhalten können.

Viele Falkenleute flogen und gingen ein und aus, braune Flügel und braune Gesichter, viele mit harten, strengen Zügen und zu Zöpfen geflochtenen schwarzen Haaren. Jori konnte Singen hören und ein Klopfen und Klingen wie von einem Schmiedehammer, Ratteln und Rütteln und Lachen und fröhliche Gespräche. Inzwischen empfand er das Ding, das sie zu viert trugen, als eine schwere Last, die viel leichter zu heben gewesen wäre, wenn sie nicht so nah an den schroffen Felsen entlang fliegen müssten, gerade unterhalb der Sichtlinie des Dorfes.

Einer der anderen gab das vereinbarte Signal, und Jori und seine Gefährten mussten sich noch mehr anstrengen, um das böse Ding im Gleichgewicht zu halten, während der vierte sich an dem Gerät zu schaffen machte. Es begann, zu klicken und zu klacken, als sei es jetzt aufgewacht. Ein großes, rundes Teil begann sich zu drehen und wurde von selbst immer schneller und schneller. Der vierte Mann legte sich wieder ins Geschirr, und wie sie es geübt hatten, tauchten sie genau in dem Moment über der Klippe auf, als das böse Ding anfing, mit fürchterlichen Stößen Donner und Blitze aus sich heraus zu schießen.

Jori sah sich angsterfüllt um – das konnte doch auf keinen Fall richtig sein, was das Ding da machte? Aber auf den Gesichtern seiner Gefährten entdeckte er nichts als Befriedigung.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht5. August 2020 von ZuMe in Kategorie "Ada", "FvT