23 Jori Gid’eron / Ada
Die Albae nickten ebenfalls. Nun war es beschlossen – aber so viele Fragen waren noch offen! Wenn Jori doch nur mehr wüsste…!
Er grübelte noch lange über diese Entscheidung, während die Sonne hinter dem Wald versank und es empfindlich kalt wurde. Dichter, zäher Nebel zog aus dem Wald herauf und ließ alles außerhalb der Reichweite ihres kleinen Feuers in Ungewissheit versinken.
Er wusste nicht genug über die Welt außerhalb des Waldes, über diese Leute, über die Zunje – nichts über gar nichts wusste er! Wie konnte er da die richtige Entscheidung treffen? Wie konnte er überhaupt eine Entscheidung treffen, egal, ob falsch oder richtig? Konnte er diesen Leuten, diesen Fremden, wirklich vertrauen? Es kam Jori so vor, als lägen hunderte von Wegen vor ihm, hunderte Möglichkeiten, diesen grasigen Hügel zu verlassen.
Eine sinnvolle Entscheidung war ihm nicht möglich. Jedes Ja, jedes Nein und sogar jedes Vielleicht würden Konsequenzen haben, die er von hier aus nicht absehen konnte, egal wie weit er sich empor reckte und seine Augen anstrengte, um in die Ferne hinter die Hügel zu schauen.
Das macht mich frei, begriff Jori plötzlich. Wenn jede Entscheidung etwas gleichermaßen Unbekanntes bedeuten kann – dann ist es wahrhaftig gleich, welche Entscheidung ich treffe. Das Gute, das Schlechte – es kommt sowieso aus dem Nebel hervor. Vielleicht auf andere Art, vielleicht früher oder später – aber es kommt sowieso, so, wie der Weg eben verläuft. Ich kann nur das tun, was ich für das Beste halte – und nichts sonst. Und warten, bis der Nebel wieder fort geht.
Mit diesem Gedanken und einem blassen, fernen Stern über sich schlief Jori erneut, tief und traumlos, und war noch im Schlaf dankbar dafür, dass er diesmal keine Bilder sah und ihn die Träumende Quelle nicht erneut rief.
Am nächsten Tag gab er Urrika-tikka sein Zunje. Auf ihr Anraten hin lief er zum See hinunter, bis auf die andere Seite hinüber zum Waldrand, denn sie sagte, wenn sie mit dem Zunje die Kräfte der Träumenden Quelle riefe, dann könnte es sehr wohl sein, dass Jori von ihr ebenfalls gerufen werde. Wenn er also den Tag nicht in unfreiwilligen Träumen verbringen wollte, musste er Abstand halten.
Das war für Jori eher Freude als Pflicht, denn er wollte gern seine Ausrüstung wieder vervollständigen. Also würde er einen neuen Speer machen.
Er sammelte Holz und machte ein eigenes kleines Feuer im nassen Wald, in der Nähe der Stelle, wo der mächtige Moth-Fluss aus dem namenlosen See entsprang. Jori bewunderte das kleine Bächlein, dass er hier nur war, für eine ganze Weile. Er reist durch das ganze Land, überlegte sich Jori, und wird dabei größer und größer, mächtiger und mächtiger. Bis eine Kehre im Flussbett ein unüberwindliches Hindernis wird und ein Hochwasser viele Tageslängen Wald überspülen kann. Wieviele Dinge mag es wohl geben, die auf ihrer Reise durchs Leben so mächtig werden? Und weiß dieser kleine Bach, was er einmal sein wird?
Es dauerte eine ganze Weile, bis Jori einen geraden Ast gefunden hatte, der ihm für seine Zwecke geeignet erschien. Er war etwas länger als sein Arm, ein guter Spieß, den man auch wie einen Speer zum Werfen gebrauchen konnte. Vorsichtig brachte er ihn mit seinem Steinmesser in Form und trennte die Spitze auf. Es war einfach, einen passenden Feuerstein für die Spitze zu finden, denn in dem grasigen Hügelland bildeten sie einen Teil des natürlichen Bodens, so dass Jori gar nicht tief graben oder weit laufen musste.
Jori wusste, dass es oft auch Zunderstein dort gab, wo Feuerstein war, und suchte erfolglos eine Weile danach. Der goldfarbene, glitzernde Stein ließ sich nicht finden, so dass Joris Zunderstein in seiner Tasche alleine blieb.
Danach machte er sich daran, den Feuerstein geduldig in Form zu schlagen; er sollte die Spitze des Speeres werden, und Jori wusste, dass dies den größten Teil des heutigen Tages in Anspruch nehmen würde. Immerhin fand sich schnell ein flacher Stein im Bach, auf dem er den Feuerstein gut schleifen konnte. Alle paar Minuten musste er eine Pause machen und seine Hände am Feuer wärmen, weil sie in dem eiskalten Wasser zu schmerzen begannen.
Gerade saß er wieder einmal am Feuer, als es ihn wie ein schwarzer Blitz erwischte : Seine Welt wurde dunkel, versank in plötzlicher Schwärze, und das kleine Feuer schrumpfte zu einem hellen Fünkchen zusammen, das immer kleiner wurde, während er mit verwirrender Schnelle nach hinten gerissen wurde. Er fuhr seine Krallen aus, peitschte wild mit dem Schwanz, fauchte und knurrte – und konnte doch rein gar nichts tun, denn sein Körper, das wurde ihm mit einem Mal klar, lag noch immer an dem Feuer im Matsch, und es war nur sein Geist, der durch die Schwärze raste. Ohne Anhaltspunkte durch die Dunkelheit zu rasen, bescherte ihm dennoch das sichere Gefühl, dass er auf die Träumende Quelle zu flog, über den See und dann bergauf, zwischen den zerfallenen Ruinen von Lebanis hindurch. Tatsächlich lichtete sich das Dunkel allmählich, so als ginge die Sonne noch einmal auf an diesem Tag, und zeigte Jori gerade genug, um zu erkennen, dass er genau über dem hohen Turm, der über der Quelle erbaut war, in leerer Luft stand und dann wie ein Stein nach unten zu stürzen begann. Schreiend und wild um sich schlagend fiel Jori durch massiven Stein hindurch, an der hell erleuchteten Haupthalle vorbei und die steinerne Treppe hinunter. Doch auch das schwarze Wasser der Quelle war kein Halt für ihn, und er konnte an der letzten trockenen Stufe Urrikka-tikka knien sehen, die sein Zunje in der Hand hielt und erschrocken aussah. Es schien ein wenig zu leuchten, doch das konnte Jori nicht mehr genau erkennen, bevor das Wasser über ihm zusammenschlug und ihm erneut die Sicht nahm.