August 5

22 Jori Gid’eron / Ada

„Aylin-Jäger, wir wollen keinen Ersatz für unseren Schaden. Wir haben gerne geholfen. Um ehrlich zu sein, waren Deine Träume uns bereits eine große Hilfe, jedenfalls das, was Du davon in Deinem Schlaf erzählt hast. Eigentlich sind wir her gekommen, damit ich die Träumende Quelle selbst befragen kann. Ich war bereit, für eine Antwort des Wassers mein Leben zu geben. Doch stattdessen hat die Quelle mir Dich gegeben. Daher denke ich, dass Du die Antwort bist, die wir brauchen.

Doch die anderen sehen es noch nicht so. Ich werde die Wasser trotz aller Zeichen daher erneut befragen. In dieser Zeit solltest Du Dich besser fern halten, damit Du nicht wieder in solch einen langen, dunklen Traum versinkst.

Danach werden wir weiter ziehen, nach Terrandan. Wir hoffen, dort eines der Zunje zu finden, eines der alten Zeichen. Du trägst eines um den Hals.“

Die Älteste deutete auf den silbernen Anhänger, den Jori wieder umgehängt hatte.

„Es ist uns ein großes Rätsel, woher Du es hast, Aylin. Hat es je mit Dir gesprochen?“

Jori fasste aus einem Reflex heraus nach dem warmen Stück Metall.

„Es hat niemals mit mir gesprochen, Älteste. Es… man hat mir erzählt, es hätte am Anfang viel Streit verursacht, weil niemand solch ein glänzendes Ding hatte. Es lag mit mir in meinem Körbchen, sagte man mir.

Sie sagten, es sei ein Zauberding, weil es warm oder kalt sein kann und immer gleich glänzt. Ich habe es nie für gefährlich gehalten… meistens habe ich es als Fischköder verwendet.“

Urrikka-tikka stutzte bei diesen Worten einen Moment, dann fing sie an, lauthals zu lachen. Als sie Joris Worte mit einem Schnaufen übersetzt hatte, lachten auch die anderen los.

„Ein Zunje als Fischköder… nun, die Welt ist wahrlich groß und vielfältig,“ schnaufte die Vogelälteste, als sie sich ein wenig beruhigt hatte.

„Du sagst also, Dein Volk kennt kein Metall? Nichts, was so ist wie die Zunje? Und jagt mit Steinmessern und Speeren?“

Jori nickte. Wie denn auch sonst?

„Sage mir, habt ihr auch Bögen und Blasrohre benutzt?“

Jori nickte wieder, einigermaßen verblüfft. Worauf wollte die Älteste hinaus?

„Erzähle mir von den Göttern Deines Volkes, Aylin. Ihr folgt doch den Göttern, oder?“

Jori überlegte einen Moment. Das Wort hatte für ihn nicht viel Bedeutung.

Vorsichtig, den Blick auf die Albae gerichtet, schüttelte er den Kopf.

„Mein Volk folgt den Großen Geistern, Älteste. Ihre Gesichter sind in die höchsten Bäume geschnitzt und schützen das Alte Herz des Waldes, in dem wir wohnen. Die Bäume sind sehr hoch, beinahe so hoch wie der Großvaterbaum.“

Jori machte sich lang, um seine Erzählung zu verdeutlichen.

„Sie umgeben und schützen uns. Beziehungsweise – die Ada, mich nicht mehr.“

„Und wie sind ihre Namen, Aylin?“ fragte Urrika-tikka sanft. Sie sah ihn an, und die dunkel umrandeten Augen, die ihm sonst so starr und gefühllos erschienen waren, drückten allem Anschein nach echte Anteilnahme aus.

„Nun… da sind Woda und Wuda, Dona und Pichta, Sunna und Mani… Daana und Eod und Ortei und Ortu…“

„Und Mavros und Maya?“ – „Mabo und Mara… heissen sie…“

Jori war einigermaßen verwundert. Warum fragte Urrikka-tikka all diese Dinge? Vor allem, wenn sie die Namen der Großen Geister doch scheinbar zumindest zum Teil schon wusste?

Die Vogelälteste nickte zufrieden und übersetzte den anderen wieder ihre Worte. Daran schien sich eine längere Diskussion anzuschließen, die sie aber schließlich mit einer Handbewegung beendete.

Lächelnd wandte sie sich Jori wieder zu. „Du hast mir etwas bestätigt, über das die Albae schon lange rätseln, Aylin-Jäger,“ sagte sie.

„Nun… ich muss die Quelle befragen. Danach werde ich eine Weile nicht in der Lage sein, zu fliegen – vielleicht nicht einmal mehr, zu gehen.“ Urrika-tikka schüttelte die Federn ihrer Flügel auf und sah kurz zu Boden. Jori durchdrang die kurze, schmerzhafte Erkenntnis, das diese Befragung für die Älteste sehr strapaziös sein würde, und dass es auch durchaus möglich sein konnte, dass sie gar nicht mehr davon zurück kehrte. Er senkte anteilnehmend den Kopf.

Dann ist niemand mehr da, der mich versteht…. wisperte eine kleine, egoistische Stimme in seinem Hinterkopf.

„Dennoch werden wir weiter nach Süden ziehen, nach Terrandan. Es muss sein, denn wir brauchen alle Zunje, die noch existieren. Ich habe – mein Volk hat zwei Bitten an Dich, Aylin-Jäger. Wenn Du möchtest, sieh sie als Begleichung Deiner Schulden bei uns an.“

Urrika-tikka lächelte, aber Jori machte sich steif. So betrachtet, konnte er keine ihrer Bitten ablehnen.

„Die erste ist: Bitte leih mir Dein Zunje für die Befragung der Quelle. Es wird vieles leichter machen und meinen Weg weniger schwer. Du bekommst es danach selbstverständlich zurück.“

Jori nickte wortlos – das war doch selbstverständlich. Immerhin hätte Urrikka-tikka das Zunje auch einfach behalten können, sie hatte es ja schon in ihrer Tasche gehabt, und Jori hätte nie erfahren können, dass die Albae das Zeichen von seinem Hals genommen hatten.

„Und die zweite ist: Wenn ich zurück kehre, werde ich, wie gesagt, vermutlich sehr schwach sein. Wir haben schon lange darüber nachgedacht, wie wir die weitere Reise am Besten bewerkstelligen, aber uns ist keine bessere Idee gekommen, als hier geduldig abzuwarten, bis ich meine Flügel wieder nutzen kann. Mit Dir aber haben wir eine andere Möglichkeit erhalten, denn Du bist stark.

Wenn meine Krieger Dir einen Schlitten bauen, wirst Du mich tragen und ziehen?“

Jori schluckte. Dann würde er, zumindest eine ganze Weile lang, mit den Albae ziehen können. War das nicht genau das, was er wollte?

Auf einmal war er sich nicht mehr so sicher. Die Albae waren so fremdartig! Er hatte keine Ahnung, was der Zweck dieser Reise sein mochte, und Urrikka-tikkas Fragen nach den Geistern und dem Zeichen an seinem Hals hatten keineswegs dazu beigetragen, ihn zu beruhigen.

„Wie lange werden wir unterwegs sein?“ fragte Jori.

„Nun…,“ Urrikka-tikka überlegte. „Vermutlich einen ganzen Mond lang.“ Die Vogelälteste sah ihn an.

Ein Mondwechsel – das war nicht allzu lange. Es war allerdings lange genug, um den Schnee schmelzen zu lassen, der nächste Mondwechsel müsste schon der Frühlingswechsel sein. Und es war in etwa dieselbe Zeit, die Jori hilflos in der Pflege dieser Leute verbracht hatte.

Jori nickte erneut. Es war eine würdige Begleichung seiner Schuld; diese Zeit stand ihnen im mindesten zu. „Ich werde mit euch gehen,“ stimmte er zu.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht5. August 2020 von ZuMe in Kategorie "Ada", "FvT