Juli 14

22 Anan-Re / Jadeira

Endlich hatte Anan den alten Brunnenschacht erreicht. Er war aus Feldsteinen aufgeschichtet, der Lehm dazwischen von der Sonne so hart wie Stahl gebacken worden.

Ein langer, wertvoller Querbalken aus Holz spannte sich darüber, von dem ein langes Seil mit dem ledernen Eimer in die dunkle Tiefe hing.

Irgendwo in der Nähe muhte es – vermutlich hatte über die ganzen „Fest“-Tage jemand nicht daran gedacht, das Vieh zweimal täglich zu tränken. Anan zog den Eimer hoch und knotete ihren langen Lederriemen an den Holm.

Dann, mit schmerzhaftem Stöhnen und sehr, sehr vorsichtig, ließ sich Anan an dem Seil hinab, einen Fuß in den Eimer gestützt und der Rest mit Krallen und Händen am Seil rutschend.

Es war ekelerregend, so ohne Halt rückwärts in die Dunkelheit zu schliddern, vor allem, als sie so tief war, dass sie das Seil nicht mehr kontrolliert abspulen lassen konnte und sich mehr oder weniger auf gut Glück fallen lassen musste.

Dann gab es ein Platschen und sie landete im kühlen Wasser. Es war unendlich angenehm, kühl und gerade hüfthoch.

Anan wusste, dass es in der Sandsteinkaverne, in die der Brunnen getrieben worden war, einen Sims gab, auf dem man stehen konnte.

Sie hatte selbst nicht mitgeholfen, weil sie damals noch ein Kind gewesen war, aber der Erzählung ihres Vaters intensiv gelauscht. Er hatte damals zusammen mit den anderen jungen Männern die kleine Janja gerettet, die hier hereingeklettert war. Ein breitschultriger, großer Jäger hatte nicht in den Schacht gepasst, aber in die Kaverne unter dem Brunnen konnte man problemlos zwei Zelte stellen.

Vater hatte ihr lange Vorträge darüber gehalten, was man tun und nicht tun durfte und welche Plätze zum Spielen zu gefährlich waren.

Anan musste schlucken und die aufkommenden Tränen unterdrücken. Rudernd watete sie bis an den Vorsprung und kletterte dann hinauf.

Sie würde hier die Nacht und den nächsten Tag verbringen, hatte sie sich überlegt. Dann waren die Suchtrupps der Männer, die sie töten wollten, hoffentlich schon erfolglos hier gewesen und sie konnte sich zu ihrem eigentlichen Ziel aufmachen, der Wasserfall-Oase, wo die Jungen und Kimar hingebracht worden waren. Anan wäre gern sofort gegangen, fürchtete sie doch um Kimars Leben und um das aller anderen Jungen, aber sie wusste genau, dass sie in ihrem Zustand nicht all zu weit kommen und deutliche Spuren hinterlassen würde.

Dann kamen die Tränen doch, ließen sich nicht aufhalten. Wenigstens war sie hier so gut verborgen, dass niemand sah, wie eine Jägerin weinte.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira