Juli 14

2 Tjani / Koowu

Später in der Nacht, als sie bereits alles gepackt hatte, rang Walja-lu noch immer mit sich. Sie liebte Torrek, und noch ein weiteres Jahr warten zu müssen, würde ihm und ihr das Herz brechen. Sie hatte Meister Moiwa von der Verlobung erzählt und den Eindruck gehabt, dass er verstanden hatte, dass ihre Heirat auch bedeuten würde, dass sie die Lehre bei dem weisen Meister abbrechen würde, um bei Torrek zu leben und ein Jäger zu sein wie er.

Niemand konnte gleichzeitig den Dienst am Meister versehen und im eigenen Nest Junge großziehen, das war doch selbstverständlich?

Und dennoch hatte Meister Moiwa-tze sie nicht von ihren Pflichten entbunden. Er hatte auch keinen neuen Schüler gesucht. Irgendwie hatte Walja-lu das Gespräch nicht noch einmal auf diese bevorstehende Änderung in ihrem Lebensweg bringen können – es war niemals leicht, mit Meister Moiwa-tze zu sprechen. Sie hatte gehofft, nach dem Fest gemeinsam mit Torrek noch einmal beim Meister vorstellig werden und sozusagen ganz offiziell ihren Abschied nehmen zu können. Und nun? Walja-lu rang mit sich und ihrem Gewissen.

Nach den langen, harten Jahren des Lernens fühlte sie sich dem Meister zutiefst verpflichtet; sie wusste auch, das die so einfach vorgetragene Bitte des Meisters durchaus eine größere Prüfung ihrer Fähigkeiten sein konnte. Meister Moiwa-tze hatte eine Schwäche für derlei verborgene Testes.

Walja-lu starrte auf ihr gepacktes Bündel und seufzte.

Dann ging sie in die große Messe, um die Jägerinnen und Jäger zusammen zu rufen. Der Raum war aus dem lebendigen Baum herausgearbeitet, rund und gemütlich eingerichtet; für die Menschen des Eulenschlags war er hell erleuchtet mit einer rötlich schimmernden Laterne und winzigen glühenden Kohlebrocken in Tonschalen auf den rund geformten Tischen.

Als sie fertig war, die Aufgabe des weisen Meisters zu erklären, waren die älteren Jäger schon wieder zur runden Flugöffnung hinaus gegangen; ihren Minen war deutlich anzumerken, dass sie Wichtigeres zu tun haben glauben.

Als Walja-lu geendet hatte, sah sie sich fünf jungen, runden Augenpaaren gegenüber – die fünf jüngsten Jägerinnen in ihrem ersten Ausbildungsjahr. Niemand von ihnen dürfte ohne einen Auftrag von Walja-lu so weit vom Heimatbaum fortfliegen, niemals.

Walja-lu betrachtete die fünf Mädchen eingehend. Vier von ihnen tuschelten jetzt miteinander, offensichtlich waren sie Freundinnen.

Die fünfte sah ein wenig zerrupft aus, so als habe sie sich schon einen Weile lang nicht mehr richtig geschnäbelt.

Die erste Nachtwache war schon vergangen, Mitternacht neigte sich eben dem Ende zu, und Meister Moiwa-tzes Bemerkung, das der Auftrag eilig war, rieselte Walja-lu wie heißer Sand über den Nacken.

„Dürfen wir auch zusammen fliegen?“ frage Falett, ein hübsches hellbraun gefiedertes Mädchen. Sie streckte die Flügel nach links und rechts aus und meinte offensichtlich ihre drei Freundinnen, die zu kichern anfingen. Die fünfte, deren Namen Walja-lu nicht kannte, stand etwas verloren daneben und betrachtete ihre Krallen. Walja-lu schloß die Augen, damit Falett nicht sah, wie sie in den Höhlen rollten.

„Dies ist kein Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Jägerin Falett,“ rief sie der erschrockenen jungen Eule mit dunkler, leiser Stimme in Erinnerung, „Es ist ein wichtiger und vielleicht lebensgefährlicher Auftrag, der dem Meister sehr am Herzen liegt.

Und da er ebenso sehr eilt, werde ich nicht vier junge Eulen auf einmal schicken, sondern einzig und allein die schnellste.“

Ganz abgesehen davon, fügte Walja in Gedanken hinzu, dass Chew-wen, die Jägermeisterin, sich dann Walja-lu sicherlich zur Brust nehmen würde. Als Schülerin des Weisen reichten ihre Befugnisse im großen Baum zwar weit, doch konnte sie nicht einfach einen großen Teil der Jäger von ihrer Arbeit abziehen – zumal der Meister selbst ja gar nicht erlaubt hatte, dass Walja-lu diese Aufgabe überhaupt jemand anderem übertrug.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Koowu