2 Jori Gid’eron / Ada
Von den Ada wusste keiner, warum das so war. Der Weg zu den anderen Stämmen war weit; schon zum Herbstmarkt war es weit, fast zwei Hände voll Tagesreisen den Fluss entlang.
Aber auch die Ada hatten nur noch wenige Kinder, die den Winter überlebten. Die Alten sagten, dass die Winter härter geworden waren, kälter und länger als in ihrer Jugend, und dass es nun das wichtigste war, Vorräte anzulegen.
Doch jeden Winter starb mindestens einer von den Alten und mindestens fünf von den Jungen, und so zählte der Ada-Stamm nur noch 40 Köpfe, als Jori alt genug geworden war, um ein Jäger zu sein.
Auf die Jäger und Jägerinnen musste man sich nun verlassen können. Doch obwohl man unter diesen Umständen annehmen könnte, dass die Schwierigkeiten den Stamm dazu zwingen würden, enger zusammen zu stehen und gemeinsam allen Widrigkeiten zu begegnen, herrschte mehr Uneinigkeit und Streit unter den Ada als früher. Vielleicht, weil der Jaguarschlag im Grunde aus Einzelgängern bestand und das enge Zusammenleben ihnen mehr schadete als nützte. Aber allein hatten die Ada in den kalten Wintern keine Überlebenschance, das hatte sich in der Vergangenheit deutlich bewiesen. Und, so nahm man wenigstens allgemein an, es war wohl auch der Grund für die Abwesenheit der anderen Jaguarstämme beim Herbstmarkt. Wer nicht seine mageren Vorräte zusammenlegte, sich in den engen, stinkenden Höhlen verkroch und sich gegenseitig den Pelz wärmte, der musste elendiglich verhungern und erfrieren.
Ganz besonders Jori bekam dies zu spüren, denn Jori sah anders aus als die anderen Ada. Wenn nicht sein großer Wuchs und seine langsame Entwicklung die anderen Ada daran erinnerte, dass Jori einst als nasses Bündel aus dem großen Moth gefischt worden war, dann sein schwarzes, glänzendes Fell, dass sich von den beigen Flecken der anderen Ada so deutlich unterschied.
Jori war kein besonders guter Jäger, kein besonders guter Tänzer oder Sänger oder Fischer. Außer seinen großartigen Träumen, die er bald der schrägen Blicke wegen den anderen nicht mehr zu erzählen wagte, konnte er gar nichts besonders gut.
Doch eines tat Jori gern – er hörte gerne zu. Vor allem Mela’chak, dem Kräutermann, mit dem er stundenlang auf der schmalen Balustrade vor des alten Mannes Haus‘ sitzen konnte, dort oben, auf der großen, vielfach verzweigten Buche, so weit oben, dass ringsumher der Waldboden von tausend flatternden Blättern verborgen wurde und die Vögel sich auf das Geländer setzten und meinten, es seien kleine Äste.
Unnin, der Lehrling des Kräutermannes, war bald eifersüchtig auf diese ungleiche Freundschaft und meinte, Mela’chak brächte Jori etwas bei, dass er nicht wissen dürfe.
Ganz unrecht hatte er mit diesen Vorwürfen wohl nicht, denn bald wusste Jori genauso viel vom geheimen Wesen der Pflanzen wie Unnin – doch geschah dieses Lernen keineswegs, um Unnin auszuschliessen.
Es war eher so, dass Jori das Verstehen, die Aufnahme von Mela’chaks Wissen, nicht verhindern konnte – es tröpfelte einfach so in ihn hinein, blieb hängen und war nicht mehr weg zu bekommen, füllte seinen Geist so selbstverständlich, als habe es immer schon dort hin gehört.
Unnin, der mühsam mehrfach alles wiederholen und üben musste, was Mela’chak ihn lehrte, kam dieses Zufliegen von Wissen natürlich unheimlich vor, und Neid war schnell die Folge.
Als der Herbst sich seinem Ende näherte und das Volk der Ada sich für den Umzug von den hohen Baumkronen in die wärmeren Erdhöhlen bereit machte, hatte die schlechte Stimmung unter den Ada einen noch nie dagewesenen Stand erreicht. Trotz aller Anstrengungen waren die Vorräte knapp bemessen für den langen, kalten Winter, der den Zeichen nach vermutlich bevorstand. Das Wild war schnell und scheu, die Vögel zogen in langen Reihen nach Süden, und der Wind schüttelte die Baumkronen und die Behausungen der Ada.