19 Jori Gid’eron / Ada
„Hör zu, Jäger.“ Urrikka-tikka blinzelte, die dunklen Augen ein Quell des Rätsels für Jori. Die Albae waren so …anders!
Er hatte nicht gewusst, dass es außer dem Jaguarschlag noch andere Schläge auf der Welt gab. Sicher, der Mäuseschlag oder der schnelle Fischschlag oder auch der listenreiche Schlangenschlag kam in alten Geschichten vor, doch außer diesen märchenhaften Erzählungen hatte Jori noch nie jemanden gesehen, der nicht seinem eigenen Jaguarvolk angehörte.
Selbst sein eigenes schwarzes Fell kannte er ja nur von dem, was er von seinem eigenen Körper wahrnehmen konnte – Spiegel kannten die Ada nicht.
Jori umschloss den Anhänger mit seiner Faust.
„Ich höre, Älteste.“
„Ich – und die meinen – wir wollen Dir nichts Böses. Aber wir sind wissen nur wenig von den anderen Schlägen. Und Dein Anhänger… interessiert uns sehr. Bitte… sei eingeladen an unser Feuer und zu unserem Essen. Lass uns erzählen, erzähle uns. Lass uns… teilen, um die Not des anderen zu verringern?“
Jori zögerte. Sein erster, misstrauischer Reflex war ein fauchendes „Nein!“; immerhin hatten diese Leute ihn gefesselt und gefangen gehalten. Aber in seinem Herzen fühlte er eine tiefe Sehnsucht nach Gesellschaft – und in seinem Bauch ein großes Loch. Wie sollte er ganz allein in dieser ihm fremden Umgebung überleben? Zwar waren die Ada daran gewöhnt, allein zu wandern und zu überleben, doch war er noch nicht erwachsen und hatte bisher immer seine Mutter und seine Brüder, manchmal auch seinen Vater um sich gehabt.
Sein Körper nahm ihm die Entscheidung schließlich ab. Seine Beine versagten ihm den Dienst und knickten unter ihm ein; haltlos rutschte Jori die Uferböschung halb hinunter ins kalte Wasser.
Urrikka-tikka trat ein paar vogelkleine Schritte auf ihn zu – wie wollte diese kleine, schlanke Frau einen großen Jaguarkörper halten? – fragte Jori sich noch, dann wurde es wieder einmal schwarz um ihn. Das Traumwasser hatte ihm erneut eine Vision geschickt, und Joris Geist trudelte nach oben in den dunklen Nachthimmel davon, während sein Körper hilflos zurück blieb.
Jori fühlte seltsamerweise keine Wut über seine Hilflosigkeit; einen Funken Scham vielleicht. Doch in diesem Traumzustand schienen alle Gefühle seltsam gedämpft und beruhigt, wie stets, wenn der Schlaf ihn mitnahm. Das Sehen war wichtig, nicht das Fühlen… zumindest schien das Traumwasser das so zu vermitteln. Jori verlor sich in dem schwarzen Sternenhimmel und folgte den tanzenden Bahnen der uralten Sterne durch die vergangenen Jahrhunderte.
„Du kannst jetzt heraus kommen,“ sagte Urrikka-tikka leise in ihrer eigenen Sprache.
!Xirruku trat wortlos aus seinem Versteck. „Er hätte Dich beinahe gewittert,“ schalt sie ihren Krieger, „seine Sinne sind sehr scharf.“
!Xirruku deutete eine Verbeugung an, ließ die schwarzen Augen jedoch auf Urrikka-tikka ruhen.
„Es ist meine Pflicht, Euch vor allen Gefahren zu schützen, Älteste. Der junge Panther mag auf Euch harmlos wirken, aber ich sehe die Kraft und Schnelligkeit unter seinem räudigen Fell.“
Urrikka-tikka lächelte kurz. !Xirruku hatte natürlich recht, auch wenn es ihr nach so vielen Jahrhunderten immer noch nicht gefiel, sich den Zwängen unterzuordnen, die dem Schutz und der Sicherheit der Ältesten dienten.
Dennoch…
„Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, Krieger.“ Sie lächelte, um die Kritik abzumildern.
„Aber ich verstehe Deine Besorgnis. Bitte hol Pakaa’ke. Wenn wir den Panther hier im See liegen lassen, ist er morgen erfroren oder ertrunken – oder beides.
Ich habe noch nicht heraus bekommen, woher er eins der alten Zunje hat.
Es steckt eine lange Geschichte dahinter, dessen bin ich gewiss.
Ich fürchte nur, auch das junge Pantherkind kennt nur einen winzigen Teil davon.“
!Xirruku nickte kurz, ehe er hinzufügte: „Wenn ich so vermessen sein darf, Älteste… Ihr solltet ihn nicht ‚Kind‘ nennen. Er scheint mir gerade in dem Alter zu sein, in dem man sich stolz als Erwachsen bezeichnet, auch wenn Körper und Geist es noch nicht sind.“
Urrikka-tikka dachte einen Moment lang darüber nach, dann nickte sie.
„Es ist lange her, dass ich so jung war. Vielleicht hast Du recht.
In jedem Fall sollten wir seine Geschichte erfahren. Es ist kein Zufall, dass er das träumende Wasser gefunden hat. Ich wäre nicht überrascht, wenn man mir sagte, dass der Zunje ihn genau hier her geführt hat, damit er uns trifft. Zum richtigen Ort zur richtigen Zeit… nein, das ist mehr als Zufall.
Ich sehe voraus, dass in diesem Ada eine der großen Geschichten steckt.“