Juli 14

16 Anan-Re / Jadeira

Es dauerte nicht lange, bis Anan die restlichen Knoten gelöst hatte. Dann ging sie hastig an die Arbeit.

Mit einer Pflanzschaufel, die sie in Taitas persönlichen Besitztümern gefunden hatte, grub sie unter dem hinteren Teppich ein breites Loch in den harten, rotgelben Wüstenboden. Dort hinein verschwand Taitas Dolch aus der Zeltplane, die zwei fast vollen Wasserschläuche und eine kleine, fransenbesetzte Tasche, die Medizinkräuter enthielt, offensichtlich ebenfalls aus Taitas Besitz.

Es dauert lange, alles wieder ordentlich zuzuschaufeln und den Teppich so darüber zu arrangieren, als sei das Zelt schon vorher auf dem kleinen, unauffälligen Hügel erbaut worden.

Essen, zumal etwas Haltbares, hatte Anan nicht. Jetzt hatte sie aber zumindest einen Notvorrat, auf den sie zurückgreifen konnte.

Die Schaufel reinigte sie sorgfältig und versteckte sie wieder in Taitas Truhe. Sie konnte notfalls auch mit bloßen Pranken graben, aber das würde viel mehr auffälligen Dreck und Unordnung bewirken.

Nun, für Traka selbst würde der kleine Dolch ihr nichts nutzen, selbst dann nicht, wenn sie ihn nicht eben vergraben hätte.

Er war zu schnell, zu geschmeidig, zu stark. Anan war nicht zu stolz, um das vor sich selbst zuzugeben.

Dennoch ließ diese Erkenntnis nicht viel Spielraum für andere Möglichkeiten.

Anan hatte jedoch eine Entdeckung gemacht, die sie zuversichtlich stimmte. Offensichtlich hatte Taita Probleme mit dem Einschlafen gehabt, denn sie hatte einen ganzen Beutel Traumnüsse in ihrer Medizintasche aufbewahrt.

Traumnüsse wurden normalerweise gerieben und das Pulver dann als Tee aufgebrüht, um die schlaffördernde Wirkung zu erzielen.

Anan wusste, dass sie angenehm würzig schmeckten.

Sofern Trakra den Geschmack nicht kannte – was gut möglich war, denn sie wuchsen in den feuchten Sumpfgebieten des Nordflusses und waren nur selten über die Quedda-Handelsgruppen zu bekommen – würde es einfach sein, sie ihm unters Essen zu mischen.

Und dann… und dann würde sich irgendeine Möglichkeit ergeben.

Das Problem war nur, dass sie kein Essen hatte – ihr leerer Magen sagte ihr das nur allzu deutlich.

Anan pulverte zwei und hackte drei der Nüsse, zwei liess sie ganz – vielleicht bekam sie die Gelegenheit, Trakra einen Tee zuzubereiten?

Dann legte sie sich die Fesseln wieder um die Beine. Es war sehr schwer, ihre eigenen Hände zu fesseln, so dass es zumindest halbwegs wieder so aussah, wie Trakra sie gebunden hatte. Das Beutelchen mit den vorbereiteten Nüssen band sie dabei an ihr Handgelenk fest.

Mit etwas Glück konnte sie es dort in den gebundenen Händen gut verstecken. Als das erledigt, war, robbte sie auf den Platz zurück, an dem Trakra sie zurückgelassen hatte, dann fing sie an, so laut zu jammern und zu klagen, wie es ihre geschundene Kehle erlaubte.

Wie sie es geplant hatte, dauerte es gar nicht lange, bis sie von irgendjemandem draußen gehört wurde; und nicht viel später steckte einer der Fremden seinen zottigen Kopf durch die Zeltplane.

„Was willst Du?“ fragte er unwirsch. Anan gab sich Mühe, die Vorstellung echt wirken zu lassen. Sie hoffte, dass das schummrige Halbdunkel des stickigen Zeltes verbergen würde, was ihr an Talent dazu fehlte.

Anklagend robbte sie auf den Wächter zu. „Trakra hält mich seit zwei Tagen hier gefangen – ohne Wasser, ohne Essen – nicht einmal waschen konnte ich mich! Was glaubst Du, was ich will?

Ich flehe dich an – gib mir wenigstens etwas Wasser. Oder Trakra wird hier heute abend nur noch meine Leiche vorfinden!“

„Hm.“ Der Kopf zog sich zurück, und Anan wartete bangen Herzens eine Zeitspanne, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam.

Schließlich öffnete sich die Zeltklappe erneut, und drei ihrer Freundinnen wurden mehr hineingeschoben als dass sie gingen.

Das fremde Ratsmitglied mit dem Wuschelkopf sah als letzter noch einmal in das Zelt und ranzte: „Ihre Fesseln bleiben, wo sie sind, klar?“

Die drei nickten verschüchtert und setzten die Sachen, die sie mitgebracht hatten, neben Anan ab.

Laut genug, dass die Wache draußen es verstehen konnte, begann ihre Freundin Inien das Gespräch.

„Der großmächtige Kowa‘ Trakra lässt Dir ausrichten, dass Du heute Abend mit ihm speisen wirst,“ sagte Inien geziert. „Bis dahin sollen wir dich hübsch machen und Deinen Durst stillen.

In seiner unendlichen Weisheit schickt Kowa‘ Trakra Dir sogar dies hier.“

Inien rollte dramatisch mit den Augen, was die anderen Mädchen in Kichern ausbrechen ließ, denn Inien hatte dabei auf den Nachttopf gedeutet, den sie hergebracht hatte.

Während die Freundinnen ihr das Fell auskämmten und neue Zöpfe flochten, ihr Wasser zu trinken gaben und eine laute, belanglose Unterhaltung führten, flüsterte Anan ihnen ihren Plan zu.

Ainwe fand den Medizinbeutel mit den restlichen Traumnüssen nach Anan Beschreibung schnell, und die anderen kamen überein, allen Besuchern des Frauenzeltes heute Abend heißen, süßen Schlaftee zu servieren. Töten wollten sie keinen der anderen Räte. Übereinstimmend waren sie der Meinung, dass Trakra allein die ganze seltsame Situation herbei geführt hatte.

„Außerdem ist Ogonn recht nett,“ flüsterte ihr Ainwe rotwerdend zu.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira