August 1

15 Jori Gid’eron / Ada

Jori hatte sich alles angehört, was die Älteste zu sagen hatte. Doch beruhigt hatte es ihn keineswegs. „Lasst mich frei!“ forderte er erneut. Urrikka-tikka sah zu den anderen.

„Wirst Du uns töten, wenn wir Dich freilassen?“ fragte sie langsam. Sie wiederholte diese Worte in der Sprache der Vogelmenschen. Fünf Augenpaare richteten sich auf den jungen Ada. Niemand sprach; niemand lachte. Offensichtlich nahmen diese Fremden seine Antwort ernst.

Jori dachte nach.

„Ihr habt mich ernährt, als ich schlief. Ihr habt mich fort gebracht von der Träumenden Quelle, damit ich wieder aufwachen kann.

Eure Taten sind nicht nur schlecht. Darum werde ich Euch nicht töten. Aber ihr habt kein Recht, mich zu fesseln. Lasst mich frei!“

Die Vogelälteste übersetzte seine Worte zu den anderen. Es folgte ein Moment der Stille, der von einem einzigen knarrenden Laut des großen schlanken Mannes auf der anderen Seite des Feuers beendet wurde.

Dann schien es entschieden. Urrikka-tikka selbst nahm Joris Jagdmesser und durchschnitt seine Fesseln. Dann reichte sie ihm das Messer mit dem Griff voran zurück.

Jori nahm es und wich langsam ein paar Schritte zurück. Er wollte die Vogelleute nicht aus den Augen lassen, bevor er sie nicht in sicherem Abstand wusste.

Mehr stolpernd als gehend, witternd und immer wieder um sich sehend, rannte Jori zum See hinunter.

Er wollte fort von denen, die ihn gefangen gehalten hatten. Sie waren zu fünft, sie waren vielleicht nicht stark… aber seltsam geschmeidig-schnell; und diese eine Woche in den Träumen der dunklen Quelle und in den Fesseln der Albae schien seine Muskeln seltsam geschwächt zu haben. Jori zitterte vor Anstrengung, als er den See erreichte. Dabei war er erst wenige hundert Herzschläge lang gegangen.

Beschämenderweise war das Feuer der Vogelmenschen noch immer in Sichtweite, da es auf einem der sanften Hügel errichtet worden war und der grasige Hang nur sanft zum See hin abfiel. Jori keuchte bereits und war froh, dass die Dunkelheit sein schwarzes Fell verschluckt hatte – hoffentlich auch für diese seltsamen schwarzäugigen Vogelwesen.

Er trank durstig und wusch sein Fell so gründlich, wie er es in seinem elenden Zustand vermochte. Währenddessen grübelte er darüber nach, was mit dem Mond nicht stimmte; warum ihm die krallendünne Sichel, die bald im Norden versinken würde, so falsch vor kam.

Schließlich, als er nass bis auf die Haut und zitternd aus dem See watete, kam er darauf: Als er die Ruinenstadt betreten hatte, war es Vollmond gewesen. Der Mond war aber eine zunehmende Kralle… also musste er, anders als angenommen, nicht nur eine Woche schlafend und träumend bei den Vogelmenschen verbracht haben. Jori rechnete die Mondphasen an den Fingern nach. 7 Tage bis zum Voller-Bauch-Mond, dann noch einmal sieben Tage bis zum halben Mond und erneut soviele Tage, bis er eine dünne Krallensichel wurde. Und noch einmal 7 Tage, für die Zeit bis zur Nacht-ohne-Augen, wo der Mond gar nicht über den Himmel wanderte… und dann noch mindestens 3 oder 4 Tage, bis er wieder solch eine dünne Kralle bildete…. fast einen ganzen Mond lang hatte Jori geschlafen und geträumt!

Langsam wurde Jori klar, dass die Vogelmenschen sich sehr gut um ihn gekümmert haben mussten, da er mehr als nur halb verhungert zu ihnen gekommen war. Sein Bauch war jetzt zwar nicht rund und voll, doch Schmerzen und Hungerkrämpfe, wie er sie auf seinem Weg hier her erlebt hatte, waren nur noch eine ferne, fast verblasste Erinnerung.

Er wusste selbst, wie schwierig es war, jemanden zu ernähren, der es nicht wollte – Mela’chaks Krankheitsverlauf hatte es ihm schmerzhaft gezeigt. Also mussten die Albae jede seiner kurzen Wachphasen weise genutzt haben, während sie geduldig darauf warteten, dass die Wirkung der Träumenden Quelle in ihm nachließ. Beinahe einen ganzen Mondwechsel lang…


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht1. August 2020 von ZuMe in Kategorie "Ada", "FvT