11 Jori Gid’eron / Ada
Als Jori erneut erwachte, befand er sich außerhalb der Ruinenstadt in der Nähe des Sees. Der Wald war nahe, und Jori atmete tief ein, als er den vertrauten Geruch von Borke, Blatt und Gras bemerkte.
Er hatte den Wald sehr vermisst. Vielleicht, obwohl die Welt außerhalb des Waldes nicht so tot und leer aussah, wie ihn seine Stammesangehörigen gelehrt hatten, war sie dennoch auf eine andere, schwer zu beschreibende Weise tot; nicht tot in dem Sinne, dass ihr jegliche Bewohner fehlten… aber eben tot, was die Bäume anging, diese mächtigen Stimmen im Winde, und auch tot, was die Ada anging.
In Waldnähe konnten die Ada überleben, doch ohne den Wald… eine Tote Welt, ohne Bäume und ohne Ada. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, konnte Jori den Geschichten seiner Vorfahren eine neue Wahrheit abgewinnen, die ihn allerdings zutiefst verwirrte. Er hatte noch nie über so etwas nachgedacht. Die Geschichten der Alten waren eben immer einfach… Geschichten gewesen. Es schien so, als habe ihn der lange Schlaf am Teich zu seltsamen Erkenntnissen gebracht; Erkenntnisse, die Jori in sich ruhen fühlte, ohne ihnen Namen geben zu können.
Er streckte sich und bemerkte, dass er noch immer gefesselt war; wenn auch nun auf andere Weise. Die geschickt angebrachten Lederriemen erlaubten es ihm nun, zu gehen, doch konnte er die Pfoten nicht weit genug auseinander ziehen, als dass er hätte rennen oder eine Beute schlagen können.
Geschickt gemacht….
Trotz seiner Fesseln genoss Jori das Gefühl, vollkommen wach und ausgeschlafen zu sein. Er genoss den Geruch des Waldbodens, als habe er ihn Jahre um Jahre vermisst, und das leise Geräusch des Sees, als habe man ihn soeben erst gelehrt, es zu hören.
Sein Jagdmesser fehlte. Seine Haare waren verfilzt und sein Fell stank, als habe er sich einen Monat lang nicht mehr gewaschen. Dabei war das Bad in dem warmen Wasser in der Turmruine doch höchstens eine Woche her… schätzte er jedenfalls; die vielen Stunden Schlaf voller unruhiger Träume hatten sein Zeitgefühl stark verwirrt.
Die Luft roch süß an diesem Tag; der Frühling hatte bereits Macht in diesem waldlosen Land.
Noch einmal streckte er sich und zog die Krallen durch das frische grüne Frühlingsgras und den weichen, schlammigen Untergrund. Vorsichtig erhob er sich und sah sich um.
Wie vermutet waren die Vogelleute nicht weit fort; sie hockten wenige Meter entfernt um ein niedrig brennendes Lagerfeuer und schienen überhaupt nicht mit einander zu sprechen. Sie bereiteten erneut eine Art Essen; Jori roch den bratenden Fisch selbst gegen den Wind auf diese Entfernung. Obwohl sein Magen schmerzhaft knurrte, musste Jori einen Moment lang inne halten und die perfekte Harmonie der kleinen Gruppe bewundern. Niemand von ihnen sprach. Dennoch war es, als läsen sie die Gedanken ihres Nächsten auf wundersame Weise. Brauchte einer von ihnen eine Zutat oder ein Gerät, so hatte es sein Nachbar bereits in den Händen. Musste dieser oder jener eine Arbeit tun, so brauchte er nicht mit Händen oder Ellenbogen um Platz zu stoßen – die anderen wichen schon zur Seite, bevor derjenige überhaupt begonnen hatte. Jori hatte diese Art der stummen Verständigung an den Vogelleuten bisher nicht bemerkt. Doch erschien es ihm, als beobachte er ein eingespieltes Team; eine Gruppe von langjährigen Vertrauten.
Er kannte ähnliches von alten Ada-Paaren zu Hause, wenn sie länger gemeinsam unterwegs waren, in weit schwächerem Maße. Bei dem Ada kam es jedoch viel öfter zu Zank und Streit als es zu friedlichem Zusammenarbeiten kam. Die Ada waren eben Einzelgänger, und dieses Maß an perfekter Zusammenarbeit, das die Vogelleute hier an den Tag legten, war den Ada unbekannt.
Hätte ich das früher auch erkannt? Fragte sich Jori, während er sich erhob und leise auf das Feuer zuging.
Obwohl er kein lautes Geräusch gemacht hatte, sah die alte Frau, die seine Sprache sprechen konnte, bei seinem Nähertreten auf, lächelte ein wenig und neigte den Kopf in seine Richtung.
Jori war eingeladen, näher zu treten.