Juli 14

11 Anan-Re / Jadeira

Sie fühlte sich allein gelassen, erneut verraten – und wusste gleichzeitig, dass sie diese Gefühle keinesfalls Taita anlasten durfte. Sie hatte sie über ihre Absichten nicht belogen. Maror in die nächste Welt zu folgen, war ihr letzter Wunsch gewesen, und sie hatte ihn sich selbst erfüllt.

Anan wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Draußen war alles still. Sie umkreiste Taitas Leichnam mit soviel Abstand wie in dem engen Zelt möglich und hob vorsichtig die Zeltklappe.

Draußen stand eine Wache – dem Schattenriss nach zu urteilen einer der Fremden. Viele andere Männer sind ja auch nicht mehr übrig.

Anan überlegte. Sie konnte Taitas Tod jetzt der Wache melden. Schlimmstenfalls würde er ihr angelastet werden, vor allem, wenn sie zuvor ihre Pflicht als Taitas Stammesangehörige erfüllen und den rituellen Schnitt setzen würde, der die Seele aus dem toten Körper befreite.

Völlig zu Recht konnten die Fremden und der neue Kowa‘ dann behaupten, dass sie den todbringenden Dolch berührt und bei ihrem Auffinden Taitas Blut an den Händen gehabt habe. Sie dann als Sippenmörderin anzuklagen, war der nächste logische Schritt und würde es dem neuen Kowa‘ ermöglichen, seine derzeitigen Probleme auf einen Schlag zu lösen.

Sie könnte aber auch…

Vorsichtig zog Anan den Dolch aus Taitas Herzen. Dann trat sie an die hinterste Zeltwand, dort, wo es am dunkelsten war. Dort, wo sie gerade noch das Zeltdach erreichen konnte, machte sie mit der blutigen Waffe zwei kleine Schnitte und schob den Dolch so hindurch, dass das glänzende Heft draußen und die blutdunkle Klinge im Zeltstoff verkeilt war. Nun hatte sie eine verborgene Waffe. Jetzt musste sie nur noch eine andere glaubhafte Geschichte für Taitas Tod erfinden – aber welche?

Eine hastige Suche brachte als einzige andere mögliche Tatwaffe nur eine abgebrochene Zeltstange hervor, die Taita aus irgendeinem Grund bei ihrer persönlichen Habe aufbewahrt hatte. Sie war reich geschnitzt und aus einem wertvollen Holz gearbeitet worden, denn sie glänzte trotz ihres offensichtlichen Alters noch wie frisch geölt. Sie war mit einem scharfen, langen Splitter gebrochen und fast so lang wie ein Jagdspieß.

Anan beließ Taita in derselben Position, in der sie sie im Tode vorgefunden hatte, und holte erst einmal tief Luft. Dann rammte sie die geborstene Spitze der Zeltstange in die Wunde, die der kleine Dolch hinterlassen hatte, so tief sie es vermochte.

Es war grausig. Anan bildete sich ein, Taita müsse noch immer zucken und sicher auch gleich vor Schmerz laut aufschreien, fauchend auf die Beine kommen und Anan mit einem mächtigen Prankenhieb aufhalten – aber sie lag still und ertrug die ehrlose Aktion mit der Ruhe, die nur die Toten besitzen können.

Anan musste den Pfahl noch zweimal fest in den leblosen Körper rammen, bis die Verletzung – in ihren Augen – halbwegs glaubhaft aussah.

Dann stieß sie einen lauten Schrei aus und rannte zum Eingang, um die Wache zu alarmieren.

„Sie… sie.. hat sich in den Pfahl gestürzt.. ich weiß nicht, wie…!“

All die Aufregung, die sie zuvor mit kühler Überlegung verdrängt hatte, brach jetzt hervor und machte ihre Schauspielerei glaubhafter, als sie selbst es wusste.

Irgendwann musste sie es ja hinter sich bringen. Schließlich würde Ihre Geschichte immer unglaubwürdiger werden, je länger sie die Benachrichtigung darüber aufschob.

Sie war weiß wie Kalksand und krampfte die zitternden Finger in einander, als die Wache näher trat.

Zu ihrem Erstaunen war der Wächter am Zeltausgang Trakra selbst.

Der Kowa‘ hatte an der vorderen Zeltstange gelehnt und beinahe sehnsüchtig zu dem Frauenzelt hinüber gesehen, aus dem Licht und Gelächter drang.

„Taita… Taita ist tot, Kowa‘,“ sprudelte Anan hervor. „Sie ist.. sie hat sich in eine abgebrochene Zeltstange gestürzt. Ich.. Ihr.. jemand muss ihre Seele befreien, und… und..“

Trakra unterbrach sie mit einer einzigen Handbewegung und schlug die Zeltklappe zurück. Dann stieß er sie hinein.

Anan erkannte den erfahrenen Kämpfer, der einen Hinterhalt vermutete, denn er blieb am Zelteingang stehen und spähte ins Innere, bis sich seine Augen an die noch tiefere Dunkelheit darinnen angepasst hatten. Mit gezogenem Dolch kam er schließlich hinein und witterte grollend.

Dann öffnete er die Abdeckung der Laterne. Im Zelt wurde es hell, so dass Anan blinzeln musste.

Trakra schnupperte an Taita, sein Faytwa an ihrer Kehle. Anan zog sich in den hinteren Teil des Zeltes zurück, wo der kleine Dolch im Zeltdach steckte, um dem Kowa‘ mehr Platz zu lassen. Sie verschränkte die Finger in einander, während der neue Kowa‘ die Leiche der alten Frau untersuchte.

Es gab ein schmatzendes Geräusch, als er die Zeltstange aus ihrem Brustkorb zog und begutachtete.

„Ich.. ich weiß nicht, woher sie stammt,“ wagte Anan einzuwerfen, als er das splitterige Holz untersuchte, „sie war wohl bei ihren persönlichen Sachen.“ Anan deutete auf die reich verzierte Truhe, die sie durchwühlte hatte.

Trakra untersuchte auch diese.

„Erzähl mir, was passiert ist,“ forderte er.

„Nun, ich… wir… wir stritten uns, nachdem ihr uns in das Zelt bringen ließet, Kowa‘. Taita meinte, mir stünden keine Widerworte gegen… Eure Methoden zu, da ich zu jung sei, um mit der möglichen Strafe zu leben. Sie selbst sagte, sie wolle Großvater Maror in die nächste Welt nachfolgen, so bald sie die nötigen Mittel dafür fände.

Ich.. nahm es nicht ganz ernst, denn ich war erbost über ihre Meinung, man dürfe einfach ungestraft Vater und Großvater ermorden lassen…“

Hier zuckte Trakra unruhig mit dem Schwanz und gab ein bedrohliches Knurren von sich – Hinweis genug für Anan, dass sie den Bogen beinahe überspannt hatte. Hastig fuhr sie fort.

„Sie gab mir etwas zu trinken und eine Decke und ich… ich weinte mich in den Schlaf. Taita sang, sehr lange und leise, und ich bin darüber eingeschlafen. Als… Ich erwachte, als etwas Schweres neben mir aufschlug – Taitas Körper.

Sie.. sie muss die Zeltstange wie einen Jagdspieß gegen sich selbst verwandt haben. Ich.. ich weiß es nicht.“

„Hm,“ war alles, was Trakra dazu sagte.

„Bitte.. Ihr müsst Ihre Seele aus ihrem Körper befreien, Kowa‘. Wenn … Ihr wisst sicher selbst, dass sie sonst bald als Geist umgehen wird.“

Trakra runzelte die Stirn.

„Das hast Du bei deinem Vater doch gegen jede Tradition heute schon getan, Püppchen. Warum nicht jetzt auch bei Taita?“ fragte er.

„Ich.. ich habe kein Faytwa. Euer Jagdgefährte.. nahm ihn fort, Taitas auch. Auch deswegen rechnete ich nicht damit, dass Taita sich ernsthaft etwas antun könnte.“

Anan sah zu Trakra auf und versuchte mit allen Mitteln, die Augen von der kleinen Falte im Zeltdach, genau über ihm, zu lassen. Wenn der Dolch jetzt heraus fiele…

Wäre nur jemand anders heute Abend der Wächter des Zeltes gewesen! Selbst einen ihr völlig unbekannten Fremden meinte sie leichter überzeugen zu können als diesen schweigsamen, misstrauischen, stiernackigen Kowa‘!

Trakra trat einen halben Schritt näher. Anan konnte nur noch an die Zeltwand zurückweichen, also blieb sie stehen und schlug die Augen nieder. Trakra stand so dicht vor ihr, dass sie seine Brustwarzen anstarren musste und ihr Atemhauch die Härchen auf seinen Armen bewegte.

Er packte sie am Arm. Was für eine Kraft dieser Mann hatte!

„Es scheint, dass Du die Wahrheit sagst, Püppchen,“ grollte er. „Obwohl Du sie genauso gut selbst hättest umbringen können.“

Wieder sah Anan mit großen Augen zu ihm hoch und hoffte, das richtige Maß an Erstaunen in ihren Blick legen zu können. „Aber.. warum sollte ich, Kowa‘?“ fragte sie. „Taita war die einzige, die in meinem Sinne gesprochen hat nach dem Saddhaq…. nach dem… Kampf.“

Trakra sah sie lange an, seine riesenhafte Hand um ihren Unterarm geschlossen. „Es gibt Männer, die nicht nach dem Warum fragen, wenn sie töten,“ sagte er schließlich, zum ersten Mal ohne diesen wütenden, grollenden Unterton in der Stimme. „Bis heute war ich sogar überzeugt, das sei bei den meisten Menschen so. Aber die Nordstämme sind wohl sanfter als die Löwen des Südens – oder zumindest die Jadeira sind es.

Verweichlicht und schwach. Fett geworden über den grünen Weiden und von den wahren Traditionen des Löwenschlags weit entfernt. Ha! Ein Kampf der leeren Hand. Welch eine Unverschämtheit. Ich werde sie euch alle zurück bringen.“

Anan versuchte, ihren Arm aus seiner Hand zu lösen, aber genauso gut hätte sie versuchen können, einen Berg fort zu schieben. In seinen Gedankengängen gefangen, schien der Kowa‘ von ihren Bemühungen noch nicht einmal sonderlich viel zu bemerken.

„Nein, Kowa‘, das seht Ihr falsch,“ erwiderte sie dann. „Moari forderte den Kampf der leeren Hand aus Respekt vor Eurer Stärke. Beim Tanz-Kampf geht es um Geschick und Wendigkeit, nicht nur um bloße Kraft. Mein Vater hoffte, Euch auf diesem Gebiet schlagen zu können, wenn schon nicht mit purer Gewalt.“

„Er hätte so oder so verloren,“ grollte Trakra. Die Wut in seiner Stimme war zurück gekehrt, und er starrte sie an. Anan schluckte unbehaglich. Die Leiche im Raum, auf der sich bereits die ersten Fliegen niederließen, trug auch nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei.

„Aye, aber er hätte mit einigen guten Treffern sein Gesicht wahren und überleben können. Geschlagene Krieger können sich doch immer noch einer Dijadda oder einer Quedda anschließen.“

„Ihr lasst besiegte Gegner am Leben?“ Trakra sah nun wirklich wütend aus. Anan ruckte erneut an ihrem Arm, genauso sinnlos wie zuvor.

„Und wegen diesen verweichlichten Zerrbildern der Löwen-Tradition hat man mir meinen Sieg genommen und meinen Jagdbruder Vorek erstochen?“

Anan brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Vorek wohl der Fremde war, dem Taita ihren Dolch in den Rücken gerammt hatte.

„Unsere Traditionen gehören uns, Kowa‘.“ wagte sie einzuwerfen und versuchte, ihn wieder daran zu erinnern, warum sie ihn hereingerufen hatte. „Die Stämme des Nordens haben sehr profitiert von den Quedda-Händlern und -Lehrern, und für die Dijaddas gibt es genug Jagdwild, auch wenn unter ihnen schon einmal geschlagene Krieger mitziehen.

„Und das Befreien der Seele eines Toten gehört genauso dazu. Bitte?“


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira