Juli 14

10 Anan-Re / Jadeira

Es war Taitas eigenes, wie Anan blinzelnd erkannte. Viele der älteren, verdienten Stammesangehörigen der Jadeira hatten eigene Zelte, in die sie sich zurück ziehen konnten, wenn ihnen der Sinn danach stand. Es war eine Ehre, wenn jemandes Zelt von der Gemeinschaft aufgebaut wurde und er selbst keine Hand regen musste.

Diese Ehre stand nur wenigen zu, den älteren Beratern des Kowa‘ etwa – oder einer geliebten Frau.

Taita fauchte Anan an, kaum dass ihre Bewacher damit fertig waren, das Zelt grob zu durchsuchen.

„Kind, warum um alles in der Welt hast Du das getan?“

Anan stutzte. „Wieso? Du hast doch selbst gegen den neuen Kowa‘ gesprochen! Ich schäme mich nicht, die Wahrheit zu sagen!“

„Anan! Ich bin eine alte Frau. Mein geliebter Mann ist tot. Ich kann sagen, was ich will, weil ich mich ohnehin in mein zweites Faytwa stürzen werde, sobald ich es finde. Aber Du! Du bist noch jung und hast Dein ganzes Leben noch vor Dir. Du solltest den neuen Kowa‘ nicht verärgern!“

„Moari war mein Vater und Maror mein Großvater,“ antwortete Anan hitzig, „und was er getan hat, war eines Kowa‘ nicht würdig. Es war reiner Mord! Und für Mord gilt nto – das Gesetz der Blutrache!“

Taita sah Anan einen Moment lang an, dann wurde ihre Mine milder.

„So jung. Und so wütend. Du erinnerst mich an mich selbst, vor dreißig, fünfunddreißig Regenzeiten…
Dennoch, Anan – du magst Recht haben und die Wahrheit sagen – aber das heißt nicht, dass die dazu passende Gerechtigkeit vom Himmel fallen wird wie der jährliche Regen.

Der Kowa‘ ist das Gesetz – und der Kowa‘ ist jetzt Trakra. Du wirst für Deine Worte fürchterlich leiden müssen, fürchte ich.“

Anans Zorn verflog beinahe so schnell, wie er gekommen war. Heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte den Kopf ab und fauchte.

„Das ist mir egal,“ schniefte sie. „Ich habe Recht.“

Taita wandte sich kopfschüttelnd ab und kramte in ihren Sachen. Nach einer Weile reichte sie ihr eine Decke, die streng nach Kamel roch.

Dankbar nahm sie die Gabe an, wickelte sich hinein und rollte sich auf einem Teppich zusammen. Verborgen unter dem lohfarbenen Gewebe ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Es dauerte lange, bevor sie aus reiner Erschöpfung einschlief. Dann verfolgten die Bilder ihres um Luft ringenden Vaters sie in ihren unruhigen Träumen.

In ihrem eigenen Elend und einem stickigen Halbschlaf gefangen bemerkte sie kaum, dass Taita begonnen hatte, leise zu singen.

Sie sang sehr lange und sehr leise, und ihre Worte schienen eine Geschichte von vielen Regenzeiten zu erzählen, von Trauer und Schmerz und großem Glück und Geborgenheit, von der wilden Jagd und den warmen Abenden am großen Feuer….

Anan fuhr erst auf, als eine plötzliche Stille das Ende des Liedes anzeigte. Da war noch ein anderes Geräusch gewesen – ein leises Röcheln?

Anan strampelte sich aus der Decke und sah in das erschlaffte Gesicht von Taita, die direkt neben ihr auf dem Teppich lag.

Ihre Augen brachen gerade, denn sie hatte ihre Behauptung wahr gemacht und sich ihren Faytwa ins Herz gestoßen.

Das lange, leise Lied war wohl die Totenklage der alten Frau gewesen.

Anan rollte zurück von der Leiche, wie betäubt. Sie sollte… sie musste… sie wusste es nicht.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira