Juli 12

1 Anan-Re / Jadeira

Anan sah nicht auf, obwohl sie wusste, dass die Stammes-Ältesten sie umringten. Mit geübten Griffen nahm sie das erlegte Tier aus und zog es ab. Wie man es sie gelehrt hatte, bot sie die Eingeweide der erlegten Antilope den Windgeistern dar und vergrub sie anschließend unter ein paar Händen voll Sand. Erst dann sah sie auf, und ihre Zufriedenheit war ihrer Mine deutlich anzumerken.
Dies war ihre Große Jagd, und sie hatte sie zur vollsten Zufriedenheit Aller vollendet.
Die Dorfältesten nickten wohlwollend; viel zu sagen blieb ihnen nicht. Nur Tasma’a räusperte sich.
„Denke stets daran, Anan, eine Jägerin allein mag zwar mutig und stark sein, doch ihre wahre Stärke zeigt sich erst im Rudel.“
Anan lächelte herablassend. Sicher.
„Ich werde stets daran denken, weiser Ältester,“ erwiderte sie dennoch respektvoll. Es war kein guter Zeitpunkt, für so eine kleine Zurechtweisung die Rudelordnung in Frage zu stellen. Sie erhob sich und streckte alle vier Tatzen, überprüfte den Sitz ihres Jagdspeeres und des Bogens und säuberte ihr Messer im Sand.
„Darf ich gehen?“ fragte sie schließlich, weil sich die Ältesten noch immer ansahen und wortlos etwas zu besprechen schienen.
„Aye, natürlich, Anan-re,“ sagte Maror, ihr Großvater, mit einem Schmunzeln, das sein wettergegerbtes, zerfurchtes Gesicht in tausend Falten zog.
„Feiere ruhig mit Deinen Freundinnen. Und lass Dir sagen, dass wir schon lange keine so gute Jagd wie Deine gesehen haben. Deine Fähigkeiten sind für Dein Alter weit fortgeschritten.“
Anan glühte vor Stolz über das Lob und die neue, respektvolle Anrede als
Stammesjägerin.
Mit der traditionellen Shawa‘, dem respektvollem Gruß, entfernte sie sich und trabte auf das Frauenzelt zu, das unter den fünfzehn Zelten des Lagers für ihren scharfen Blick bereits von hier auszumachen war.
Die Luft flirrte in der Hitze des langen Tages, als die Ältesten ihr nach sahen. Maror seufzte.
„Es war die beste Jagd seit langem, in der Tat,“ sagte er leise. „Wenn wir der
Prophezeiung Glauben wollen, ist sie die Auserwählte.“

Tasma’a schnaufte. „Wir dachten, einer der Erstgeborenen…„ fing er an, „…einer der Männer…“
„Aye, aber was wir dachten, zählt nicht,“ unterbrach ihn Maror traurig, „ nur das, was geschrieben steht, zählt.“
Die anderen schüttelten die Köpfe oder murmelten sorgenvolle Kommentare.
„Mein Sohn wird sehr aufgebracht sein, wenn ich es ihm sage,“ fuhr Maror fort, „also werden wir damit warten, bis ihr Fest vorüber ist. Wenn Euch das recht ist?“ Er sah die anderen fragend an, seine Mine bat um ihre Zustimmung.
Die Jagdmeister nickten.
„Gut. Danke.“ erwiderte Maror. „Dann lasst uns die Jagdbeute heimbringen.“
Alle packten mit an, und so wurde das kräftige Tier schnell zum Lager und dem wartenden Feuer hinübergebracht. Ein ums andere Mal sah Maror zu dem blassen Stern hinauf, der seit einiger Zeit tags wie auch nachts am Himmel zu sehen war.

Das Himmelszeichen. Das Juwel, das niemand erringen kann.

Die Zeit war ganz unzweifelhaft die Richtige. Und es waren nur eine Handvoll Kinder gewesen dieses Jahr, die ihre Große Jagd gehalten hatten. Die Wahl des Himmels schien eindeutig, dennoch bedrückte es Marors altes Herz, das es ausgerechnet seine Enkeltochter sein musste, das einzig überlebende Kind seines Sohnes Moari und der schönen Shinan, die nun schon ein halbes Jahr im Sande lag.
Es würde Moaris mühsam aufrecht erhaltene Selbstbeherrschung vielleicht vollkommen zertrümmern, wenn er diese Nachricht erfuhr. Dennoch, das Wüstenvolk der Jadeira vom Löwenschlag stellte Tapferkeit und Mut über alle anderen Tugenden.
Maror konnte vor seiner Aufgabe, seinen Sohn und seine Enkeltochter in die alten Prophezeiungen einzuweihen, genauso wenig davon laufen wie Anan davor, sie zu erfüllen – oder ihre Erfüllung zumindest zu versuchen.
Trotzdem, diesen einen Abend Aufschub, während Anan-res Fest, sollte ihm das Schicksal noch gewähren.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht12. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "FvT", "Jadeira