Juli 14

1 Jori Gid’eron / Ada

Jori duckte sich tiefer in die Schatten auf den feucht-kalten Steinen der Wendeltreppe. Dort oben waren Leute! Helle, fremdartige Stimmen hallten zwischen den alten, moosbewachsenen Steinen wieder. Sein scharfes Gehör sagte ihm mit unerbittlicher Sicherheit, dass er von hier unten nicht unbemerkt würde herauskommen können – dass er in der Falle saß.

Warum um alles in der Welt war er nur hier herunter geklettert?! In einer verlassenen Stadt in einen halb eingestürzten Turm…

Unruhig schlug die Spitze seines Schwanzes hin und her, bis er es bemerkte und hastig unterdrückte, damit nicht das Geräusch spritzenden Wassers die Fremden über ihm alarmierte.

Wie war er nur hier hineingeraten? Jori seufzte. Noch vor ein paar Stunden hatte er sich sehnlichst Gesellschaft gewünscht, sich nach anderen Stimmen gesehnt und jemandem, mit dem er reden konnte; jemand, der kein Geist war und ihn nicht mit stummen Anklagen überhäufte. Und jetzt – war sein Wunsch offensichtlich in Erfüllung gegangen, doch Freude darüber vermochte Jori beim besten Willen nicht zu spüren. Nur Misstrauen krampfte ihm den ohnehin schon leeren Magen zusammen.

Jori wich noch etwas weiter in das warme, mineralisch riechende Wasser zurück. Vielleicht würden sie ja nicht hier herunter kommen… vielleicht waren sie wegen etwas ganz anderem hier… vielleicht…

Merkwürdigerweise fühlte Jori sich nun schuldig, dass er in dieser warmen Quelle am Ende der Wendeltreppe gebadet und von dem leicht bitter schmeckenden Wasser getrunken hatte. Was, wenn die Fremden da oben die ehemaligen Bewohner dieser Ruinenstadt waren und ihm sein Eindringen übel nahmen? Was, wenn….?

Plötzlich, wie eine über seinem Kopf zusammenschlagende Welle, überkam ihn die Erinnerung an sein verlorenes Zuhause. Haltlos, kraftlos rutschte Jori noch ein Stückchen weiter die glitschige Treppe hinab, so dass er nun mit dem schwarzen, schlanken Leib im Wasser lag und nur sein Kopf und Oberkörper noch auf die Treppe herausragte.

Mit all seiner verbleibenden Kraft wollte Jori sich herausziehen, bemühte sich gleichzeitig, möglichst kein Geräusch zu machen, um die Fremden da oben nicht aufzuschrecken – doch es war so sinnlos, als hätte das dunkle, blutwarme Wasser sich vorgenommen, ihn zu verschlingen.

Tatsächlich fühlte Jori keine Panik, kein Entsetzen über seine plötzliche Wehrlosigkeit, denn sein Geist wurde von seiner Erinnerung fort gerissen, weit, weit nach oben in die Luft gewirbelt, achtlos wie ein loses Blatt und doch vom Winde geborgen, sanft geschaukelt und getragen.

Nach Westen und Norden wehte er, bis er die riesigen Bäume seiner Heimat aus dem Wilden Wald herausragen sah. Dorthin, wo alles begonnen hatte, segelte er, und mit Augen, die so scharf wie die eines Adlers waren, konnte er die Jagdhütten seines Volkes sehen, die wie zu groß geratene Vogelnester an den großen Stämmen und auf den ausladenden Ästen klebten. Brücken und bunte Bänder verbanden sie, Seile waren zwischen den Plattformen und Häusern gespannt.

Selbst in seinem seltsam entrückten, körper- und gefühllosen Zustand versetzte Jori der unerwartete Anblick seiner Heimat einen schmerzhaften Stich. Dort war der Moth-Fluss, dort die Schaukelseile, mit denen die Kinder zu spielen und ins Wasser zu plumpsen pflegten, dort die Hütte des Waldältesten, wo sich allabentlich alle am großen Feuer versammelten und Geschichten erzählten und Lieder sangen. Dort, etwas weiter entfernt, war auch Mela’chaks Hütte, in der er so lange gelernt hatte; dort unten der Jägerstein, auf dem die Mädchen zu sitzen pflegten, wenn die Jäger auszogen, damit sie ihnen kichernd hinterher winken konnten oder Frechheiten hinterher rufen. Dort würde Ayle wohl sitzen, wäre jetzt Sommer. Dort würde Jori vorbeigehen, geschmückt für die Jagd, und hoffen, dass sie einen Blick auf ihn werfen würde, einen einzigen nur…

Doch es war und blieb ein Trugbild. Dieser Sommer war vergangen, auch der Herbst, und er hatte Joris Volk, den Ada vom Jaguarschlag, nichts als Unglück gebracht.

Schon lange siechte Joris Volk dahin, waren es immer weniger und weniger Stämme geworden, die sich zum großen Herbstmarkt an der südlichen Flussbiegung trafen. Letztes Jahr waren die Ada alleine dort gewesen und waren nach 2 Tagen Wartezeit umgekehrt, denn niemand war zum Tauschen gekommen, weder Qetzel noch Barrin oder Karruk – kein anderer Stamm vom Jaguarschlag schien noch Interesse am Handel zu haben.


Autor: Susanne Meyers. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht14. Juli 2020 von ZuMe in Kategorie "Ada", "FvT